Verdrängung von Leid schafft Leid
- jschnizlein
- 10. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Ich war 34 Jahre alt und im 6. Monat schwanger, als ein renommierter Gynäkologe zu mir sagte: „Sie sind noch jung. Sie können ein anderes Kind bekommen. Tun Sie sich dieses hier nicht an. Konzentrieren Sie sich lieber auf eine neue Schwangerschaft und auf ein gesundes Kind.“
Das Kind, das sich zu diesem Zeitpunkt schon deutlich in meinem Bauch bemerkbar machte, hatte nämlich einen Fehler. Einen schweren Herzfehler. Deshalb riet mir der Arzt, das Kind abzutreiben. Bei schweren Fehlbildungen ist das erlaubt. Bis unmittelbar vor der Geburt.
Dem Rat des Arztes bin ich nicht gefolgt. Unsere Tochter lebt. Es geht ihr trotz des schweren Herzfehlers sehr gut und wir sind dankbar für jeden Moment, den wir mit ihr verbringen dürfen. Und ich werde nicht müde, ihre Geschichte zu erzählen. Denn ihre Geschichte und der vielleicht gut gemeinte Rat des Arztes, sind für mich symptomatisch für unsere Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die versucht, alles zu optimieren und zu perfektionieren. Die versucht, alles im Griff zu haben und das Ungewisse und Unberechenbare, das Dunkle, das Leiden und das Sterben aus dem Lebens- und Sichtfeld zu verbannen.
So wie den Karfreitag. Sechs Jahre ist es her, seit man den Karfreitag in Österreich als Feiertag endgültig für alle gestrichen hat. Wie hat es der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz so schön ausgedrückt? „Für 96 Prozent der Menschen ändert sich eh nichts“. Und vielleicht hatte er recht, als er da so lapidar meinte, dass dieser Feiertag am Großteil der Bevölkerung relativ spurlos vorübergeht.
Ungeliebtes Stiefkind
Der Karfreitag war ja in Österreich schon vorher ein ungeliebtes Stiefkind unter den Feiertagen. Anders als Ostern oder Weihnachten taugt er nicht zur Folklore. Für die Konsumindustrie ist er vollkommen unbrauchbar. Wer will schon Schokoladen-Kruzifixe oder Dornenkronen-Deko?
Auch inhaltlich will an diesem Feiertag nicht unbedingt Feststimmung aufkommen. In Bayern, wo ich herkomme, wird der Karfreitag als sogenannter „stiller Feiertag“ begangen. Öffentliche Unterhaltungsveranstaltungen und sogar Sportveranstaltungen sind verboten, um diesem Tag nicht seinen Ernst und seine Würde zu nehmen. Schließlich ist es der Tag, an dem das sogenannte christliche Abendland um seinen Namensgeber trauert. Der Tag, an dem Jesus Christus gekreuzigt wurde.
Diese unfassbare Tatsache gilt es, anzunehmen und auszuhalten. Und zwar nicht nur für Protestantinnen und Protestanten.
Die Aufgabe des Karfreitags ist es, ein einziges Mal im Jahr Leid und Tod sichtbar und spürbar zu machen. Ihnen Zeit und Raum zu geben. Und das ist so wichtig für eine Gesellschaft, die den Tod, den Schmerz, aber auch alles Unvollkommene gerne verdrängen oder zumindest optimieren möchte.
Leid, Krankheit, Tod – diese Gebrechen sind in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen und nicht erwünscht. Wenn überhaupt, dann leidet man leise. Schmerz wird betäubt und unterdrückt.
Fehler im System
Stark soll man sein, um in der Welt überleben zu können. Gesund und durchsetzungsstark. Da passen körperliche Fehler nicht dazu.
Das führt so weit, dass etwa Eltern sich nicht trauen, Kinder mit Fehlbildungen zur Welt zu bringen. Nicht weil sie Angst haben, dass sie selbst der Herausforderung nicht gewachsen sind, sondern weil sie fürchten müssen, dass DIE WELT dem nicht gewachsen ist. Dass sie stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Weil Krankheit oder Fehlbildungen eben als Fehler im System gebrandmarkt sind. Weil sie schambesetzt sind. Und das ist fatal! Und genau dagegen wehrt sich der Karfreitag!
Verdrängung von Leid schafft neues Leid. Und so muss man sich in einer Welt, in der es keinen Raum für das Leid gibt, auch nicht wundern, wenn kaum jemand ehrlich auf die Frage „Wie geht es dir?“ antwortet. Wie sollen Einzelne eine Sprache für leidvolle Erfahrungen entwickeln, wenn ihnen die Gesellschaft weder Raum noch Zeit zur Verfügung stellen.
In DIESER Gesellschaft ist es nur konsequent, den Karfreitag als Sinnbild für alles Unbequeme und Unberechenbare als Feiertag abzuschaffen.
In Gesetz gegossene Verdrängungsstrategie
Die Abschaffung des Karfreitags als Feiertag ist nichts anderes, als unsere Gesetz gewordene Unfähigkeit, mit Leid umzugehen. Sie ist eine in Gesetz gegossene Verdrängungsstrategie!
Umso mehr freue ich mich als evangelische Pfarrerin, dass diese Strategie nicht bei allen aufgeht. Unsere Lutherische Stadtkirche platzt heute, am Karfreitag, in den drei Gottesdiensten, die wir feiern, regelrecht aus allen Nähten. Feiertag hin oder her.
Weil wir Christinnen und Christen eben nicht in einer Welt leben wollen, die das Leid verdrängt. Weil das Kreuz nicht, wie von gewissen politischen Kräften oft falsch interpretiert, ein Zeichen der Dominanz des sogenannten christlichen Abendlandes ist, sondern ein Zeichen der Demut und Lebenszugewandtheit.
Denn mit der Christusgeschichte, der Geschichte vom leidvollen Tod Jesu, hat Gott das Leiden und Sterben in sich selbst aufgenommen. Im Kreuz hat er es in die Bilder von sich selbst integriert. Deshalb liegt in diesem Kreuz ja die Einzigartigkeit unseres christlichen Gottesbildes.
Wir haben einen Gott, der unsere Maßstäbe erschüttert, indem er sich selbst verletzbar und sterblich gezeigt hat. Wir haben einen Gott, der sich ganz und gar menschlich gezeigt hat. Einen Gott, der sagt: Ich bin kein Gott, der auf dem Himmelsthrone bleibt. Ich halte mich nicht raus aus eurer Welt. Ich bleibe nicht vor den Türen der Krankenhäuser, der Hospize und Pflegestationen.
Ich verberge mein Angesicht nicht vor all den Schreien, den Krankheiten, dem Schmerz und Blut.
Wir haben einen Gott, der sich nicht zu schade war, in seinem Sohn gefoltert, erniedrigt und auf grausamste Weise hingerichtet zu werden. Wir haben einen Gott, der tot war.
Für mich persönlich und meinen Glauben ist das wesentlich. Im Kreuz wird für mich deutlich, dass Gott auch im größten Leid und in den ausweglosesten Situationen für mich da ist.
Das Kreuz sagt: In meiner Gegenwart hat das Leben in all seinen Facetten seinen Platz. Hier musst du dich nicht von deiner angeblich besten Seite zeigen. Du musst deinen Schmerz nicht verstecken, denn ich fühle mit dir. Ich leide mit dir. Ich halte deine Hand, wenn ein Anruf dich über den Tod eines lieben Menschen informiert. Ich umarme dich, wenn der Arzt dir die tödliche Diagnose überbringt. Ich trage dich auf deinem letzten Weg in dieser und führe dich an der Hand beim Schritt in die nächste Welt. Das alles erzählt uns der Gottessohn am Kreuz. Und darin liegt auch der große Trost des heutigen Feiertages.
Alles hat seine Zeit
In der Bibel heißt es sinngemäß: Alles hat seine Zeit und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit. Leben hat seine Zeit und Sterben hat seine Zeit. Suchen und Verlieren. Reden und Schweigen. Liebe und Hass...
Das Schwere und das Leichte – sie gehören zusammen und eines wäre ohne das andere nichts wert.
Und so gehören auch Karfreitag und Ostersonntag untrennbar zusammen. Das eine wäre ohne das andere nicht zu verstehen. Erst wenn der Karfreitag durchlitten ist, kann das Happy End, kann Ostern kommen.



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