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PREDIGTEN

Gleich vorweg: Am liebsten ist es mir, Ihr kommt zu mir in den Gottesdienst. Predigten sind eigentlich nicht zum Lesen, sondern zum Hören da. Für die, die es aus diversen Gründen nicht in meine Gottesdienste schaffen, gibt es hier einen kleinen Einblick in meine Predigten zum Nachlesen.

  • LUTHERS KAIROS
    Der tag war da: so stand der stern. Weit tat das tor sich dir dem herrn ... Der heut nicht kam bleib immer fern! Er war nur herr durch diesen stern. So, liebe Gemeinde, beschreibt der Dichter Stefan George den Kairos. Also jenen Moment, jenen günstigen Moment, den man nicht erzwingen und nicht planen kann. Jenen richtigen Zeitpunkt, der sich auf einmal auftut und den man nicht vorbeiziehen lassen darf, denn er kommt vielleicht nie wieder. Kairos ist DER Augenblick, an dem alles zusammenpasst. An dem plötzlich so vieles möglich ist, was vorher undenkbar war. An dem – so glauben wir Christinnen und Christen es – der Heilige Geist selbst am Werk ist. In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder solche Kairos-Momente und zum Glück gab es immer auch Menschen, die sie erkannt und ergriffen haben. Zum Beispiel vor 240 Jahren - als die Gründungsväter unserer Gemeinde im März 1783 die einzigartige Chance nutzten, dieses Gebäude hier sowie sieben weitere Zimmer eines ehemaligen Königinnenklosters zu ersteigern. Dass hier mitten in der Stadt, im Zentrum einer römisch-katholischen Hochburg einmal so große evangelische Gottesdienste gefeiert würden und dass eine Klosterkirche, in der einst die Gebeine und Herzen mehrerer Habsburger lagen, einmal die evangelische Bischofskirche sein würde, das hätte sich vor dem Jahr 1783 wahrlich niemand träumen lassen. Träumen lassen, was alles möglich ist und was er alles ins Rollen bringen würde, hätte sich zweieinhalb Jahrhunderte vorher wohl auch Martin Luther nicht, als er seine 95 Thesen veröffentlichte. Rückblickend war der 31. Oktober 1517 wohl ebenfalls so ein Kairos. Auf den ersten Blick war es aber ein gewöhnlicher Mittwochabend. Während sich die klerikale Welt auf den anstehenden Feiertag, den Allerheiligentag, vorbereitete, nutzte der Augustinermönch Martin Luther die Ruhe vor dem Sturm, um seine Streitschrift gegen den Missbrauch von Ablass und Fegefeuer zu veröffentlichen. Dass man sich damals gegen Bares von seinen Sünden freikaufen konnte, dass Geistliche mit der Angst der Menschen vor dem Fegefeuer spielten und den Armen das Geld aus der Tasche zogen, um selbst in Saus und Braus zu leben - das alles war Luther schon lange ein Dorn im Auge. Also wollte er darüber reden. Er wollte einen innerkirchlichen Diskurs zu diesem Thema anstoßen. Einen Disput unter Gelehrten, deshalb veröffentlichte er seine Thesen auch auf Latein. Was da heute vor 506 Jahren in Wittenberg seinen Ausgang nahm, hätte also eigentlich eine rein innerkirchliche Angelegenheit sein sollen. Aber offenbar war es der rechte Augenblick, der Kairos, um etwas Größeres ins Rollen zu bringen. Etwas, das sich nicht mehr aufhalten ließ. Denn Luthers Thesen trafen den Nerv der Zeit. Sie gingen viral, so würde man das heute sagen. Sie wurden von anderen ins Deutsche übersetzt, verschickt, wiedergedruckt und so oft weiterverbreitet, dass sie irgendwann auch bei Kaiser und Papst landeten. Und davon war auch Luther völlig überrumpelt und überrollt. Wenige Monate nach dem Thesenanschlag schrieb Luther an einen Bekannten: „Es war weder die Absicht, noch mein Wunsch, sie (die Thesen), zu verbreiten. Sondern sie sollten mit wenigen, die bei und um uns wohnen, zunächst disputiert werden, damit sie nach dem Urteil vieler entweder verworfen und abgetan oder gebilligt und herausgegeben würden. Aber jetzt werden sie weit über meine Erwartung so oft gedruckt und herumgebracht, dass mich dieses Erzeugnis reut“, so schrieb es Luther im März 1518. Was ihn reute, war nicht der Inhalt, sondern vielmehr die Art und Weise, wie er seine Ansichten zu Papier gebracht hatte. Hätte er sie fürs ganze Volk geschrieben, hätte er sie anders geplant. Vermutlich pointierter. Kürzer und klarer. Er hätte sie selbstverständlich auf Deutsch verfasst. Aber es war anders gekommen. Seine Thesen waren im Umlauf, das Feuer der Reformation war entfacht und Luther selbst fand sich plötzlich in der Rolle des Protestanten wieder. Eine Rolle, in die er immer mehr hineinwuchs. War Luther im Oktober 1517 noch ein von ganzem Herzen papsttreuer Anhänger der römischen Kirche, distanziert er sich in den kommenden Monaten mehr und mehr vom Papsttum. Seine Aussagen werden schärfer, seine Schriften wurden angriffiger. Innerhalb kürzester Zeit avanciert Luther vom Theologieprofessor einer kleinen Universität zum Bestsellerautor und Medienstar. In immer neuen Disputationen mit Kirchenvertretern seiner Zeit beharrt Luther auf seinem Standpunkt und fordert die Reformierung der sittenverderbten Institution Kirche. Niemand aus dem päpstlichen Lager weiß ihm sachlich beizukommen und mutig wehrt Luther alle Drohungen aus Rom ab, die ihn zum Widerruf auffordern. Schließlich verliert der Papst die Geduld. Zweieinhalb Jahre nach dem sogenannten Thesenanschlag – im Sommer 1520 - stellte Papst Leo 10. dem aufsässigen Reformator ein letztes Ultimatum: Widerruf oder Exkommunikation. Ob die Reformation zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch aufzuhalten gewesen wäre, lässt sich rückblickend natürlich schwer sagen. Luther jedenfalls ist nicht mehr aufzuhalten. Unter johlendem Geschrei seiner Studenten verbrennt er das päpstliche Schreiben vor den Toren Wittenbergs auf dem Scheiterhaufen. Der Bruch mit Rom ist damit besiegelt. Der Papst exkommuniziert Luther und lässt seine Schriften öffentlich verbrennen. Luther und seine Anhänger sind damit offiziell Häretiker. Dieses Ende der Beziehung zu Rom war der Beginn von etwas ganz Neuem - der Beginn der evangelischen Kirche- Einer Kirche, deren Strömungen heute weit über den deutschsprachigen Raum hinausgehen. Vielleicht hätte es auch ohne Luther eine Reformation gegeben. Schließlich gab es auch noch etliche andere reformatorische Zeitgenossen und vor allem frühere Wegbereiter (wie Jan Hus). Klar ist aber, dass die Reformation und damit unsere westliche Welt ohne Luther und ohne Luthers Kairos im Oktober 1517, ---- anders aussehen würde. Das protestantische Gedankengut von Glaubens- und Gewissensfreiheit, von der Gleichheit der Menschen vor Gott und von der Gnade, die Gott uns völlig unverdient geschenkt hat – all das hat das Denken und Wirken vieler Menschen geprägt und damit unsere Geschichte und Kultur geformt. Viele große Persönlichkeiten haben das, was sie hervorgebracht und der Welt hinterlassen haben, aus einem protestantischen Verständnis heraus getan. Denken Sie an Lessing, Goethe, Schiller oder Mann. Berthold Brecht nannte die Lutherbibel das für ihn wichtigste Buch. Auch Kant, Fichte, Schelling oder Hegel waren Produkte einer evangelischen Kultur! Oder denken Sie an Bach- ohne seinen protestantischen Hintergrund wäre das Werk von Johann Sebastian Bach kaum zu verstehen. Auch in Österreich haben Protestanten aller Verfolgung und Unterdrückung zum Trotz ihre Spuren hinterlassen. Vor allem nach der Duldung der Protestanten unter Josef II und ihrer späteren Gleichstellung konnten sich Menschen wieder offen zu ihrem evangelischen Glauben bekennen oder gar zum Protestantismus konvertieren. Erinnert sei an Alma Mahler-Werfel, Otto Wagner, Theophil Hansen, Oskar Werner, Theodor Billroth oder den Vater der Verfassung Hans Kelsen. Hier in unserer Kirche getauft wurde Heimito von Doderer, der wurde dann allerdings katholisch - und vor ihrer Beisetzung aufgebahrt wurden hier in unserer Kirche Johannes Brahms und der Walzerkönig Johann Strauss Sohn. Sie alle haben ihre evangelischen Spuren hinterlassen und das Österreich, das wir heute kennen, geprägt. Insofern ist die Reformation kein einmaliges oder historisch abgeschlossenes Ereignis. Der Kairos der Reformation wirkt bis heute fort und er soll durch und in uns weiterwirken. In unsere Kirche - in unsere Gesellschaft hinein. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Reformation war, wie schon erwähnt, die Sola Gratia. Das Prinzip der Rechtfertigung allein aus Gnade. Und sie hat auch mehr als 500 Jahre später nichts an ihrer Aktualität und Relevanz verloren. Und sie besitzt noch immer die Kraft und den Zündstoff, um eine kranke Welt zu verändern. Allein aus Gnade ist der Gegenentwurf zum Leistungsprinzip. Wir sind es heute gewohnt, dass alles im Leben seinen Preis hat. Selbst der Tod kostet das Leben. Wir sind gewohnt, dass man Leistung bringen muss, um in der Gesellschaft zu bestehen und wer keine Leistung bringt, dem bleiben Erfolg und Anerkennung verwehrt. Wir sind gewohnt, uns zu vergleichen. Wer ist besser im Beruf, wer ist der bessere Vater, die bessere Großmutter, das bessere Kind. Und all das geht einher mit der Angst, vielleicht doch nicht gut genug zu sein. Vielleicht doch nicht genug geliebt zu werden. Vielleicht doch nicht anerkannt zu werden. Und vielleicht doch zu kurz zu kommen. Genau so ging es Luther damals. Das Deutschland des Mittelalters war eine religiöse Leistungsgesellschaft im Wetteifer um das Seelenheil und das ewige Leben. Martin Luther aber hatte erkannt, dass nicht einmal das beste Bemühen ausreicht, um von Gott vorbehaltlos anerkannt zu werden. Jeder Versuch, vor Gott zu bestehen und sich selbst zu rechtfertigen, war zum Scheitern verurteilt. Es war wie das vergebliche Jagen nach einem unerreichbaren fernen Ziel. Und Luther litt! Er hatte Angst, war verzweifelt, bis er – in einem Kairos - aus dem Neuen Testament heraus erkennen durfte, dass es all das gar nicht braucht. Dass Gott anders ist, als er all die Jahre gedacht hatte. Seine Gerechtigkeit ist anders. Gott liebt uns und er erwartet keine Leistung dafür. Im Gegenteil. So unbegreifbar das ist: Wir werden geliebt, voll und ganz unverdient. Die Angst, die Luther bis dahin jeden Tag im Nacken gesessen hatte, war verschwunden. Die Angst, nicht genug getan zu haben und deswegen nicht geliebt zu werden. Die Sehnsucht nach einer Rechtfertigung für das eigene Dasein war gestillt. Und liebe Gemeinde, ich bin sicher, wenn wir heute diese Erkenntnis genauso verinnerlichen würden, wie Luther es getan hat, dann würde es in dieser Welt viel weniger Neid geben. Viel weniger Konkurrenzdenken, weniger Abwertung, weniger Hass. Und es würde stattdessen viel mehr Mitmenschlichkeit geben, Zufriedenheit und Frieden. Denn wer das Prinzip der Rechtfertigung aus Gnade verinnerlicht hat, der weiß, dass er nicht immer perfekt sein muss. Nicht immer funktionieren muss. Die Gnade sagt Dir: Du darfst müde sein. Vergesslich. Schlecht gelaunt. Du musst nichts beweisen. Du musst nicht immer alles im Griff haben. Du darfst heulen, wenn dir danach ist. Du bist was wert, auch wenn du dir nicht viel leisten kannst. Ja, liebe Gemeinde, wer sola Gratia verinnerlicht, der braucht keine Angst mehr haben, zu kurz zu kommen. Der erkennt, dass er das Beste im Leben bereits umsonst bekommen hat. Ein anderer hat dafür bezahlt. Und wer das erkennt, der kann sich doch gar nicht mehr nur noch um sich selbst drehen! Wen Gott aus Gnade gerechtfertigt hat, den hungert vielmehr nach Gerechtigkeit in der Welt! Der protestiert gegen jedes Unrecht. Wem Gott Frieden in die Seele gibt, den dürstet nach Frieden auf Erden und der protestiert gegen den Unfrieden der Welt und wird damit seinem Namen als Protestanten gerecht. Und daher, liebe Schwestern und Brüder, wünsche ich uns allen 540 Jahren nach Luthers Geburt einen Kairos, in dem seine Erkenntnis auch unser Innerstes erreicht und uns zur Freiheit befreit. Und ich wünsche uns, dass die Reformation so immer weiter ihre Spuren und Kreise zieht. In uns und durch uns. Heute und in Ewigkeit. Amen Und der Friede Gottes...
  • "I HAVE A DREAM" - Die Welt in Gottes Licht sehen - Ostern 2023
    Predigt Ostersonntag 2023 (plus Taufe) Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht.” In Washington D.C. ist es brütend heiß im August 1963. 250.000 Menschen stehen und sitzen in glühender Sonne auf dem Rasen rund um das Lincoln Memorial. Sie alle sind Teil der bislang größten Demonstration gegen die Rassendiskriminierung in den Vereinigten Staaten. Sie warten auf den Höhepunkt des Tages. Nach einem Lied der Gospel-Sängerin Mahalia Jackson ist es so weit. Der 34-jährige Baptistenpastor und Bürgerrechtler Martin Luther King bahnt sich den Weg zum Rednerpult. Er räuspert sich. Die großen amerikanischen Fernsehsender gehen auf Live-Schaltung. Bis in die Morgenstunden hat King am Text für seine Rede gefeilt. Aber die Passage, für die sie berühmt werden sollte, war im Manuskript nicht vorgesehen. „Ich freue mich, heute mit euch zusammen an einem Ereignis teilzunehmen, das als die größte Demonstration für die Freiheit in die Geschichte unserer Nation eingehen wird“, beginnt King langsam. Es folgt eine politische Rede gegen die fundamentale Ungerechtigkeit der Rassentrennung. Aber der Funke zwischen King und seinem Publikum scheint nicht recht überzuspringen. Vor der Schlusspassage hält King inne und holt Luft. Mitten in diese Kunstpause hinein ruft die Sängerin Mahalila Jackson: „Tell’em about the dream, Martin!“ Wenige Monate zuvor hatte sie den Bürgerrechtler über seinen Traum reden gehört und war fasziniert gewesen. Noch einmal ruft sie: „Erzähl ihnen von deinem Traum.“ King legt das Manuskript zur Seite und setzt zu jenen Worten an, die Geschichte geschrieben haben: „I have a dream...“ 60 Jahre ist es nun her, seit Martin Luther King in seiner Rede das Hoffnungsbild einer besseren und gerechteren Welt entworfen hat. Die Hoffnung auf ein Amerika ohne Rassendiskriminierung. Ein Amerika, in dem tatsächlich Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen. Kings Worte elektrisieren die Menge. Sie treffen die Menschen mitten ins Herz. „Heute sage ich euch, meine Freunde, trotz der Schwierigkeiten von heute und morgen habe ich einen Traum.... Ich habe den Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Ich habe einen Traum... Ich habe den Traum, dass eines Tages unten in Alabama mit den brutalen Rassisten, ... kleine schwarze Jungen und Mädchen mit kleinen weißen Jungen und weißen Mädchen als Schwestern und Brüder Hände halten können. Ich habe einen Traum... Und dies ist unsere Hoffnung. Dies ist der Glaube, mit dem ich in den Süden zurückgehen werde. Mit diesem Glauben werden wir gemeinsam arbeiten können, gemeinsam beten können, gemeinsam kämpfen können, gemeinsam ins Gefängnis gehen können: mit dem Wissen, dass wir eines Tages frei sein werden. I have a dream.“ Liebe Gemeinde, was Martin Luther King hier träumt, muss in den Ohren seiner Zeitgenossen eigentlich wie der Fieberwahn eines Predigers in der sengenden Hitze Washingtons geklungen haben. In einer Zeit, in der zwei von drei Afroamerikanern nicht wählen durften, in der sie keine Schulen gemeinsam mit Weißen besuchen und nicht einmal neben ihnen im Kino oder Bus sitzen durften, war sein Traum verwegen oder absurd. Martin Luther King träumte von einer Welt, in der Gleichwürdigkeit herrscht. In der alle Menschen, egal ob schwarz oder weiß, Mann oder Frau, die gleichen Rechte haben. Er träumt von einer Welt, er beschreibt ein Amerika, das von der Realität meilenweit entfernt scheint. Er sieht die Welt, er sieht Amerika, so wie es sein könnte. Er sieht es in Gottes Licht. Und hier kommen wir zu Constanzes Taufspruch: „In deinem Lichte sehen wir das Licht.” Was damit gemeint ist, ist mir gestern noch einmal so deutlich geworden. Da war ich mit meiner Familie in der Ausstellung „Monets Garten“. Beim Maler Claude Monet geht es sehr viel ums Licht. Und er soll mal gesagt haben: „Das Motiv ist nie, was es ist, sondern was das Licht aus ihm macht.“ Übertragen auf unseren Taufspruch heißt das: „Die Welt ist nicht, was sie ist, sondern was das Licht aus ihr macht.“ Der Psalm fordert uns auf, die Welt in Gottes Licht zu sehen. Also so, wie Gott sie erdacht hat. Er fordert uns auf, die Hoffnung zu sehen! Die Zuversicht zu bewahren! Die Möglichkeiten zu finden! Gottes Licht, liebe Gemeinde – das ist das Osterlicht! Heute feiern wir den Grund der Hoffnung, das Fest des Lichts. Heute feiern wir einen Gott, der für uns das Unglaubliche wahr werden lässt. Der Steine von Gräbern rollt und Tote auferstehen lässt. Der uns in jedem Abgrund, in jeder Dunkelheit, neue Perspektiven und neues Licht schenkt. „Gott ist die Quelle des Lebens. Und in seinem Licht sehen wir das Licht.“, so heißt der Vers aus Psalm 36. Martin Luther King kannte diesen Psalm ganz sicher. Er war ein tiefgläubiger und sehr bibelfester Mensch. Das Licht des Glaubens war ihm quasi in die Wiege gelegt. Vielleicht wissen Sie, dass er eigentlich unter dem Namen Michael King Junior zur Welt gekommen war. Aber sein Vater, ebenfalls Baptistenpastor, ließ den Namen seines Sohnes im Alter von fünf Jahren während einer Europareise umändern. Er ehrte damit Martin Luther, für den er große Bewunderung empfand. Schon der Name des Bürgerrechtlers ist also Ausdruck tiefen religiösen Empfindens. Seine Zuversicht, das Unrecht in der Welt verbessern zu können, bezog King also aus seinem Glauben. Aus seinem Vertrauen in diesen großartigen Gott, dessen Liebe zu uns nicht einmal vor dem Kreuz Halt gemacht hat. In seiner berühmten Rede zitiert King mehrfach die Bibel. I have a dream - ist eigentlich eine Predigt. Eine Predigt, die einen Hoffnungstraum skizziert. Und die für Hunderttausende von Menschen zum Motor wurde, um gewaltlos für ihre Rechte zu kämpfen. Sein Traum trieb die Menschen an, selbst Visionen zu entwickeln, nach ihnen die Wirklichkeit zu gestalten und dadurch etwas zu verändern Natürlich ist Kings Traum noch lange nicht ausgeträumt und die Rassendiskriminierung längst nicht überwunden, aber Kings Traum hat etwas aufgebrochen, was sich nicht mehr aufhalten lässt. Und genau das bedeutet für mich auch Ostern. Ostern bricht etwas auf. So wie sich ein Grab von innen öffnet, oder so wie ein klitzekleines Küken aus dem Ei heraus die unglaublich harte Schale von innen aufpickt und aufbricht und sich so den Weg ins Licht und ins Leben bahnt, so bricht Ostern etwas in UNSEREM Leben auf. Ostern bricht verkrustete Denkmodelle auf. Ostern bricht die Dunkelheit in unserem Leben auf. Die Aussichtslosigkeit. Die Einsamkeit. Die Überforderung. Den Frust und die Verzweiflung. Ostern ruft uns zu: Es ist mehr möglich, als du denkst. Also fürchte dich nicht! Ja, liebe Gemeinde: Fürchtet Euch nicht, sondern seht die Welt in Gottes Licht. Seht die vielen ungenutzten Möglichkeiten, die versteckten Chancen und die noch ungelebten Aufgaben. Glaubt daran, dass mehr möglich ist, als ihr momentan denkt. Diese Haltung und dieses Vertrauen, das möchte ich auch der kleinen Constanze mitgeben. Und es ist eure Aufgabe, liebe Eltern und liebe Patin, Constanze davon zu erzählen, was ihr Taufspruch für sie bedeuten kann. Er soll ihr Hoffnung schenken und das Vertrauen, dass sie nicht auf sich alleine gestellt ist. Sondern das Gott bei ihr ist. Er ist die Quelle allen Lebens und er lässt uns nicht los, nicht im Leben und nicht im Sterben. Daher soll Constanze mutig durchs Leben gehen und neugierig. Sie soll die Welt in Gottes Licht sehen, so wie Gott sie erdacht hat. Sie soll alles hoffen und alles träumen, so wie Martin Luther King es tat. Fünf Jahre nachdem er der Welt zugerufen hatte: „I have a dream...“ wurde Martin Luther King im Alter von nur 39 Jahren von einem Attentäter in Memphis Tennessee auf dem Balkon seines Hotels erschossen. 50.000 Menschen nahmen an seiner Beerdigung teil und Millionen Menschen weltweit trauerten um den Prediger, dessen Stimme zu früh verstummt war. Aber sein Traum lebt weiter. Bis heute wird geteilt und weitergeträumt, und er lässt sich nicht mehr aufhalten. Seine Hoffnung wirkt fort, denn sie kommt von Gott. 50 Jahre nach dem „Marsch auf Washington“ würdigte der damalige Präsident der Vereinigten Staaten auf eben jenen Stufen des Lincoln-Denkmals in Washington die Verdienste des Bürgerrechtlers Martin Luther King. Es war Barack Obama. Der erste farbige Präsident. Ich schließe mit Worten des Propheten Jeremia: Jeremia 17, 7-8a. "Gesegnet ist der Mensch, der auf Gott vertraut und dessen Hoffnung der Herr ist. Er ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und seine Wurzeln zum Bach hin ausstreckt." „Bei dir, Herr, ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht“ Und der Friede Gottes...
  • SCHAU NICHT WEG! Vom Wert des Karfreitags für die Gesellschaft
    Ich war 34 und im 6. Monat schwanger mit unserem zweiten Wunschkind, als ein sehr renommierter Gynäkologe zu mir sagte: „Sie sind noch jung. Sie können ein neues Kind haben. Tun Sie sich dieses hier nicht an. Konzentrieren Sie sich lieber auf eine neue Schwangerschaft und auf ein gesundes Kind.“ Das Kind, das sich zu dem Zeitpunkt schon so deutlich in meinem Bauch bemerkbar machte, hatte nämlich einen Fehler. Einen schweren Herzfehler. Deshalb riet mir der Arzt, das Kind abzutreiben. Bei schweren Fehlbildungen ist das erlaubt. Bis unmittelbar vor der Geburt. Die meisten von Ihnen wissen, dass ich dem Rat des Arztes nicht gefolgt bin. Unser Kind lebt – viele hier kennen Elsa. Und ich werde nicht müde, ihre Geschichte zu erzählen. Ihre Geschichte und der vielleicht gut gemeinte Rat des Arztes, sind für mich nämlich symptomatisch. Symptomatisch für eine Gesellschaft, die versucht, alles zu optimieren und zu perfektionieren. Die versucht, alles im Griff zu haben und das Unberechenbare, das Dunkle, das Leid aus dem Lebens- und Sichtfeld zu verbannen. So wie den Karfreitag. Vier Jahre ist es her, seit man uns, den Evangelischen und Altkatholiken, den Karfreitag als Feiertag genommen hat. Wie hat es der ehemalige Bundeskanzler damals so schön ausgedrückt. „Für 96 Prozent der Menschen ändert sich eh nichts“. Für ihn war die Sache erledigt. Für uns ist sie es noch lange nicht. Auch nach vier Jahren ist die Abschaffung des Karfreitags eine latente Wunde, die bei jeder unsanften Berührung wieder aufklafft und gerade in der Passionszeit immer wieder aufs Neue zu bluten beginnt. Aber vielleicht hatte der Bundeskanzler recht, als er lapidar meinte, dass dies am Großteil der Bevölkerung relativ spurlos vorübergehen würde. Der Karfreitag war in Österreich schon lange ein Stiefkind unter den Feiertagen. Anders als Ostern oder Weihnachten taugt er nicht zur Folklore. Für die Konsumindustrie ist er vollkommen unbrauchbar. Wer will schon Schokoladen-Kruzifixe oder Dornenkronen-Deko? Als ich ein Kind war, da wurde der Karfreitag in meiner fränkischen Heimat, vor allem am Land, noch voll Ehrfurcht zelebriert. Da zog man sich Trauerkleidung an und ging in die Kirche, zur Matthäus- oder Johannespassion. Im Fernsehen lief nur getragenes Programm, im Radio nur klassische Musik. Zu essen gab es Fisch, wenn überhaupt. Und auch wir Kinder sollten nicht herumtoben oder tanzen, denn es war ein ernster, ein trauriger Tag: der Tag, an dem Jesus gekreuzigt wurde. Das war an diesem Tag allerorts spürbar und das galt es auszuhalten. In Österreich, vor allem in Wien, habe ich das so nie erlebt. Die Traurigkeit des Tages verschwand im allgemeinen bunten und brodelnden Alltagstreiben der Großstadt. Stillstand, Innehalten, Aushalten, Leid zulassen – das passte nicht so recht ins allgemeine Lebensgefühl. Vielleicht ist der Bedeutungsverlust des Karfreitags auch einfach eine logische Folge der schrumpfenden Bedeutung des Christentums. Knapp die Hälfte der österreichischen Bevölkerung gehört zu keiner christlichen Kirche. Jesus und sein Schicksal sind vielen Menschen heute egal. Aber das allein erklärt es nicht. Zu Weihnachten und Ostern geht es ja auch um Jesus. Und diese Feste erfreuen sich allgemein großer Beliebtheit. Selbst unter Kirchenfremden. Und große Aufschreie kommen von Medien und kirchenkritischen Parteien, wenn Kreuze von den Wänden öffentlicher Gebäude und Schulen genommen werden sollen. Aber wenn der Grund des Kreuzes aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt wird, kräht kein Boulevardhahn. Ja, liebe Gemeinde: Der Karfreitag ist eben schwere Kost: Eine grausame Hinrichtung als Dreh- und Angelpunkt der Erlösung der Menschen? Diese Idee ist alles andere als selbsterklärend. Aber die Schwierigkeit mit dem Karfreitag ist nicht neu. Sie ist keine Erscheinung unserer modernen Gesellschaft. Schon zu Paulus' Zeiten sorgte das Kreuz für Irritation und Widerstand. Das Kreuz war, wie er an die Gemeinde in Korinth schrieb, "den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit". Ein Ärgernis, ein Stachel ist das Kreuz bis heute. Selbst in unserer Kirche. Vor nicht all zu langer Zeit hat mich ein Brautpaar gefragt, ob es möglich wäre, unseren Jesus auf dem Altarbild für die Hochzeitsfeier zu verhängen. Sie wollen an ihrem schönsten Tag kein Folterinstrument samt gequältem, sterbenden Menschen vor Augen haben. Und ganz ehrlich: Kann man es ihnen verdenken? Wer hat schon gerne Leid und Tod vor Augen, wenn er an die Zukunft denkt? Aber – und hier komme ich zum Beginn zurück: Wer hat denn überhaupt gerne Leid vor Augen? Leid, Krankheit, Tod – diese Gebrechen sind in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen. Wenn überhaupt, dann leidet man leise. Schmerz wird betäubt und unterdrückt. „Indianer kennen keinen Schmerz“, mit diesem Mantra sind Generationen von Kindern groß geworden und haben es an die eigenen Kinder vererbt. Stark soll man sein, um in der Welt überleben zu können. Gesund und durchsetzungsstark. Da passen körperliche Fehler nicht dazu. Das führt so weit, liebe Gemeinde, dass Familien, Eltern es nicht wagen, Kinder mit Fehlbildungen zur Welt zu bringen. Nicht nur, weil sie ihr Kind nicht leiden sehen wollen – und das verstehe ich. In jeder einzelnen Sekunde der vielen langen Tage und Nächte auf der Kinderintensivstation hätte ich mir gewünscht, dass ich statt meiner Tochter dort liege. Niemand will sein Kind leiden sehen. Auch Maria wollte das nicht. Aber ich kenne Familien, die Kinder mit Fehlbildungen deshalb nicht zur Welt bringen, - nicht weil sie Angst haben, dass sie es nicht schaffen, sondern dass DIE WELT damit nicht umgehen kann. Dass sie stigmatisiert werden. Weil Krankheit oder Fehlbildungen eben Fehler im System sind. Weil sie schambesetzt sind. In so einer Welt MUSS der Karfreitag eine Torheit, ein Ärgernis sein. Johannes hat vor zwei Wochen in seiner Predigt gesagt, die Abschaffung des Karfreitags ist eine in Gesetz gegossene Verdrängungsstrategie. Genau so ist es! Und, liebe Gemeinde, genau deswegen lohnt es sich, bewusst dagegen anzukämpfen und einzutreten. Dieser Tag, dieser Karfreitag zeigt uns, dass das Leid zu einem jeden Leben dazugehört. Selbst zu dem des Gottessohnes. Es war auch für ihn nicht weniger schlimm. Auch Jesus hat gehadert, - „lass den Kelch vorübergehen“! Er war verzweifelt – „mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ und hat furchtbar gelitten. Aber er hat das Leid angenommen. „Nicht mein Wille, sondern deiner geschehe.“ Jesus kannte die Worte des Propheten Jesaja, bevor sie an ihm Wirklichkeit – bevor sie zu seinen Worten wurden. „Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich biete meinen Rücken dar, denen die mich schlagen. Und meine Wangen denen, die mich raufen. Mein Angesicht verberge ich nicht vor Scham und Speichel“ (Jes 50,6). Liebe Gemeinde: Das Geschehen von Golgatha, die Tatsache, dass Jesus in Leid und Tod gegangen ist, dass er dieses Opfer am Kreuz gebracht hat, das war für Menschen zu allen Zeiten schwer verständlich und schwer zu ertragen. Es war schon immer unzeitgemäß. Es war schon immer provokant, denn es war nicht nur unzeitgemäß, sondern zugleich das ENDE einer Zeit. Das Ende der Welt, wie wir sie kennen und zelebrieren. Das Ende der Vorstellung, dass stark sein göttlich ist und schwach sein als menschlich abgetan wird. Gott hat sich entschieden, unsere Welt aus den Fugen und unsere Werte aufzuheben. Gott hat gesagt: Ich mache es anders: Ich bin kein Gott, der auf dem Himmelthrone bleibt. Ich halte mich nicht raus. Ich bleibe nicht vor den Toren der Welt, vor den Türen der Krankenhäuser, der Hospize und Pflegestationen. Ich verberge mein Angesicht nicht vor all den Schreien, den Krankheiten, dem Schmerz und Blut. Ich gehe hinein. Dort könnt ihr mich finden. Diese Haltung, diese Überzeugung, dieses Versprechen die sollen an meinem Sohn Jesus Christus zu sehen sein. An seinem Leben und an dem, was er von mir erzählen wird. Aber weil das bestimmt nicht reicht, weil das nicht alle verstehen oder nicht wahrhaben wollen, wird es auch am Sterben meines Sohnes zu sehen sein. -- Nun könnte man natürlich fragen, wäre das nicht auch anders gegangen. Warum hat Gott in seiner Allmacht stattdessen nicht lieber die Not seiner Menschen beseitigt? Warum hat er Krankheit, Leid und Tod nicht einfach aus der Welt geschafft? Sie wie wir es am liebsten tun würden, wenn wir kranke Kinder erst gar nicht zur Welt bringen oder Kruzifixe verhüllen wollen. Liebe Gemeinde: Gott hat das Leid nicht aus der Welt geschafft, weil er dann UNS aus der Welt schaffen müsste. Weil wir alle nicht nur Opfer, sondern immer auch Täter sind. Weil wir alle nicht nur Böses erleiden, sondern selbst auch Böses tun. Weil wir nicht nur krank sind, sondern krank machen. Weil wir Leid erzeugen, indem wir unsere Augen vor dem Leid der Welt abwenden. Darum hat Gott die Not nicht einfach aus der Welt geschafft – denn es hätte unser Leben gekostet. Gott hat einen anderen Weg gewählt und hat nicht unser, sondern hat SEIN Leben in den Tod gegeben, um uns in sich zu bergen. Wie ein Vater oder eine Mutter, die im brennenden Haus ihr Kind an sich drückt, es in ihrem Mantel birgt und durch die Flammen trägt - und dabei freilich selbst Feuer fängt. So hat Gott uns in seinem Arm geborgen, im Leiden und im Sterben seines Sohnes und trägt uns durch - durch das brennende Haus der Not und Schuld, durch Leid und durch den Tod! Und daher liebe Gemeinde muss es den Karfreitag als Feiertag geben. Es muss diesen EINEN Festtag geben, der uns in unserer Selbstsicherheit aufrüttelt und unsere Werte auf den Kopf stellt. Einen Tag, der ganz bewusst das Dunkel, das Grauen, das Leid in den Mittelpunkt stellt, denn es gehört zu unser aller Leben dazu, ob wir wollen oder nicht. Es muss den Karfreitag geben und WIR müssen ihn weiter zelebrieren und ihn klar und deutlich bekennen! Wir müssen ihn hinaustragen, vor die Kirche und in diese Welt, weil er wichtig ist. Weil er die Untiefen unseres Lebens liebevoll in den Blick nimmt und uns verspricht: Nichts und niemand, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. Amen Und der Friede Gottes.... Karfreitag 2023, 10 Uhr: Predigttext: „Ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich biete meinen Rücken dar, denen die mich schlagen. Und meine Wangen denen, die mich raufen. Mein Angesicht verberge ich nicht vor Scham und Speichel“ (Jes 50,6).
  • "STILLE NACHT" und unsere Sehnsucht nach der HEILEN WELT
    "10 Dinge, ohne die Weihnachten nicht Weihnachten wäre." - so hieß ein Artikel, den ich kürzlich in einer Zeitung gelesen habe. Jetzt würde mich interessieren, ob sich das mit Ihren Erfahrungen und Bräuchen deckt. - Wer von Ihnen hat in der Adventszeit Kekse gebacken? - Wer hat das Weihnachtsoratorium gehört? - Wer hat heuer schon „Drei Nüsse für Aschenbrödel“, „Der kleine Lord“ oder Dickens „Weihnachtsgeschichte“ gesehen? - Und bei wem steht der Weihnachtsbaum an der gleichen Stelle, an der er schon die letzten zehn Jahre stand? Weihnachten lebt wie kaum ein anderes Fest von Ritualen und Traditionen. Und viele brauchen diese Traditionen, damit sie so richtig in Weihnachtsstimmung kommen können. Daran soll sich auch nichts ändern, alles soll sein wie immer. Wie früher Für manche gehört der handgemachte Christbaumschmuck von Oma dazu, der von längst vergangenen Zeiten erzählt. Manche brauchen die immer gleichen Lieder, die uns zurückversetzen in die Zeit, in der wir selbst klein waren. Manche verbinden Weihnachten mit Bratenduft, der nie so gut riecht, wie am Heiligen Abend. Weihnachten berührt einen Sehnsuchtsnerv tief in unserem Innersten. Es ist die Sehnsucht nach einer heilen Welt. Das wohl bekannteste Weihnachtslied der Welt besingt diese Sehnsucht. Geschrieben und komponiert wurde es von zwei Männern, die das Sehnen nach einer heilen Welt tief in sich eingebrannt hatten. Josef Mohr und Franz Xaver Gruber schrieben vor über 200 Jahren das Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Mohr war zu der Zeit Hilfspfarrer in der Nähe von Salzburg und Gruber Dorfschullehrer und Organist. In ihrem Weihnachtslied verewigten die beiden ihre eigenen Erfahrungen und Sehnsüchte. Mohr, der Textdichter, war als uneheliches Kind eines desertierten Soldaten und einer Strickerin zur Welt gekommen, in einer Zeit, in der das Unehelich sein von Beginn an einen groben Makel darstellte. Zum Taufpaten hatte Mohr den letzten Salzburger Scharfricher bekommen, einen Mann, der sich seinen schlechten Ruf als Taufpate lediger Kinder aufbesserte. Was auch immer der spätere Priester Mohr in seinem Leben leistete, nie wurde er den Makel des Unehelichen los. In seiner Heimatdiözese Salzburg wurde er von einer Stelle auf die andere geschoben und starb zuletzt völlig mittellos als Pfarrvikar im Hinterland. In „Stille Nacht“ textet er über ein anderes unehelich geborenes Kind, das Jesuskind. In seiner Vorstellung wird Jesus nicht nur in eine heile, sondern in eine hochheilige Familie hineingeboren: Alles schläft, einsam wacht nur das traute, hochheilige Paar. Holder Knabe im lockigen Haar, Schlaf in himmlischer Ruh... Was für schöne Bilder! Welches Bild aber hatte wohl Franz Xaver Gruber, der Komponist des Liedes, im Kopf, als er diese Zeilen vertonte? Auch er kennt familiäres Leid. Zwölf Kinder sind ihm im Leben geschenkt worden. Nur vier davon sind erwachsen geworden. Zwei von ihnen hatte er bereits zu Grabe getragen, als er die Melodie von „Stille Nacht“ schrieb. „Schlafe in himmlischer Ruh" In diesen Worten und Tönen mag wohl auch die Sehnsucht nach seinen eigenen, nunmehr im Himmel ruhenden Kinder mitgeklungen haben. Und so schufen zwei Menschen in der dunklen Nacht ihrer eigenen Biografie mitten in einer von Krieg, Hunger und Seuchen heimgesuchten Zeit ein Lied, das noch mehr als zwei Jahrhunderte später die Menschen berührt. Ein Lied, das zum Wahr- und Hoffnungszeichen von Weihnachten wurde. Und das, obwohl gerade die ersten beiden Strophen ein Idyll beschreiben, das es so nie gab. Denn die heilige Nacht, war sicherlich alles andere als heil. Sie war weder besinnlich noch beschaulich. Der Sohn Gottes kam nicht in einem Käthe-Wohlfahrtsladen zur Welt. Sondern in einer Notunterkunft. Hineingeboren in eine für alle Beteiligten schwierige Patchworksituation. Mit einer blutjungen Mutter und einem Vater, der nicht sein Vater ist. In Empfang genommen von den Außenseitern der Gesellschaft, denn genau das waren die Hirten damals. Außenseiter, Stigmatisierte. Menschen, denen Tiere näher waren als andere Menschen. Ausgerechnet bei ihnen öffnete sich der Himmel. Die heilige Nacht war also nicht still und beschaulich. Sie war ein großes Abenteuer. Nichts war so, wie es immer schon war. Nichts so, wie es sein sollte. Alles kam anders, als gedacht. Ist also unsere Sehnsucht, nach einer heilen Welt, nach einem friedlichen Weihnachten und einer heilen, heiligen Nacht, nur ein frommer Wunsch? Ein Wunsch, der an der Realität vorbeigeht? Das glaube ich nicht, liebe Gemeinde. Die Sehnsucht, die auch Josef Mohr und Franz Xaver Gruber verspürten, die steckt in uns allen. In Ihnen, in mir. Und sie kann auch durch Bräuche, Tannenduft, Geschenke und Kerzenleuchten nicht gestillt werden. Unsere Sehnsucht zeigt uns, was uns wirklich fehlt. Sie ist eine Fähigkeit. Die Fähigkeit, den Himmel zu vermissen. Wir sehnen uns nach dem Ort, an dem alles gut ist, an dem kein Schmerz und keine Furcht mehr sind. Einem Ort, an dem wir in vollkommener Liebe geborgen sind. In der Bibel steht: Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott. Unsere Sehnsucht ist in Wahrheit eine Sehnsucht nach Gottes Gegenwart. Und diese Gottesgegenwart die nahm in jener Heiligen Nacht damals in Bethlehem ihren Anfang. Damals kam Gottes Liebe zur Welt. Es war kein blondgelockter Engel, sondern ein orientalisch-jüdischer Säugling in einem schäbigen Futtertrog. Gott in Menschengestalt. Gottes Liebe kam zu uns als ein Kind, das das Gute in die Welt gebracht hat. Und die Liebe. Und die Hoffnung. Mit Jesu Geburt kam das verlorene Paradies wieder in Sichtweite und die Gegenwart Gottes wurde greifbar. Wenn wir also heute mehr als 2000 Jahre später Christi Geburt feiern, dann lasst uns dabei das Bild von der heilen, heiligen Nacht und mit ihm all unseren Perfektionismus über Bord werfen. Weihnachten ist nicht die Abwesenheit von Problemen, sondern die Anwesenheit Gottes in allem Chaos, in allem Stress, in allem, was uns niederdrückt. Gott ist da, mitten in unserem Alltag. Lasst uns heute also lieber unserer Sehnsucht nachspüren und dem Raum geben, was noch fehlt. Lasst uns daran mithelfen, dass Gottes Liebe zur Welt kommen kann. Indem wir selbst liebevoll sind und gütig und freundlich. Indem wir mutig sind, und verzeihen oder um Verzeihung bitten. Lasst uns gemeinsam eintreten gegen das, was Furcht macht, gegen das, was Düsternis verbreitet, die Natur zerstört, andere klein macht oder auf Kosten anderer lebt. Mag sein, dass die Welt morgen untergeht, schrieb Dietrich Bonhoeffer 1942, doch erst dann wollen wir die Arbeit für eine bessere Welt niederlegen. Vorher nicht. Liebe Gemeinde: Weihnachten heißt eben nicht, dass alles so ist, wie es immer war, und dass alles bleibt, wie es ist. Sondern dass alles so wird, wie es werden soll. Was wäre, wenn wir uns um genau das bemühen? Dann liebe Gemeinde, dann wäre Weihnachten, Amen
  • WOVON TRÄUMST DU?
    1. Mose 28,10-19a Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns allen – AMEN Es ist Sonntag. Ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Ein Blick auf den Wecker zeigt mir: Ich habe verschlafen. Es ist kurz vor halb zehn. Ich sollte längst auf meiner Vespa sitzen, auf dem Weg hierher. In die Dorotheergasse, wo ich heute Gottesdienst halte. Ich weiß, ich werde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Panisch springe ich aus dem Bett. Zähneputzen und rauf auf den Roller, rein in die Stadt. Die Straßen sind frei, ich bin so schnell – ich könnte es doch noch rechtzeitig schaffen. Ich erreiche die Hofburg und muss anhalten. Mal wieder müssen die Lippizzaner gerade dann die Straße überqueren, wenn ich es eilig habe. Ich schaue an mir hinunter und jetzt bleibt mein Herz stehen. Ich trage noch immer meinen Pyjama. Das ist zu viel des Guten, sagt mein Kopf. Er übernimmt wieder das Kommando und ich wache auf. Es war ein Traum. Nur ein Traum. Liebe Gemeinde, vielleicht kennen Sie solche Albträume. Diesen sehr eindrücklichen hatte ich letzte Woche vor meinem Antrittsgottesdienst bei Ihnen. Aber die meisten Träume, die vergessen wir doch ziemlich schnell wieder. Kann sich von Ihnen noch jemand daran erinnern, was Sie heute Nacht geträumt haben? Die meisten können sich an ziemlich wenig erinnern - und das obwohl wir wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge mehrmals pro Nacht träumen. Träume spielen für unser Leben eigentlich kaum eine Rolle. „Träume sind bekanntlich Schäume“ und wenn wir uns früh überhaupt noch an etwas erinnern können, dann werden diese Erinnerungen, diese Bilder oder Ahnungen sehr schnell von anderen Gedanken überblendet. Von Alltagssorgen und To Do – Listen. In der Bibel ist das anders. Dort haben Träume einen viel höheren Stellenwert. In vielen biblischen Erzählungen sind Träume jene Orte an denen sich Gott offenbart. Mit Abimelech zum Beispiel führte Gott im Schlaf ausführliche Diskussionen. Der Prophet Samuel wurde als Kind von Gott im Traum gerufen und erfuhr dabei von seiner Berufung als Prophet und Richter in Israel. Und Josef, dessen Verlobte Maria plötzlich schwanger war und behauptete, mit keinem Mann zusammen gewesen zu sein, glaubte einem Engel, als der ihm im Traum erklärte, Marias Kind entstamme vom Heiligen Geist. Und wie wir wissen nahm Josef Maria und ihr Kind – Jesus – zu sich. Ja: Träume spielen in der Bibel eine große Rolle. Sie werden ernst genommen. Und sie spielen ins Leben der damaligen Menschen hinein. Sie haben Auswirkungen auf deren Handeln. Auch in unserem heutigen Predigttext geht es um einen Traum. Er steht im 1. Buch Mose im 28. Kapitel, Verse 10-19a “(10) Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran (11) und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. (12) Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. (13) Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abrahahm, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. (14) Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. (15) Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe. (16) Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! (17) Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. (18) Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf (19) und nannte die Stätte Bethel.” Gott segne Reden und Hören Liebe Gemeinde. Jakobs Traum, den wir eben gehört haben, ist in das Gedächtnis der Menschheit eingezogen. Unzählige Male wurde er erzählt, ungezählte Maler haben ihn zum Thema gemacht. Jakobs Traum von jener Himmelsleiter, an der Engel auf und niedersteigen. Oben, an der Spitze Gott der Herr selbst, der Jakob verspricht, ihn nicht zu verlassen. Liebe Gemeinde, dieser Traum und diese Zusage sind vor allem dann bemerkenswert, wenn man sich die Vorgeschichte von Jakob vor Augen hält. Seine Lebensgeschichte gehört zu den dramatischen Biographien der Bibel. Seine Geschichte ist eine Familiengeschichte. Ein Drama. Zwei Brüder. Zwillingsbrüder. Durch das Schicksal aneinander geschmiedet. Ungleich. Konkurrenten. Der Konkurrenzkampf mit seinem Zwillingsbruder Esau beginnt schon im Mutterleib. Von Beginn an, versucht Jakob mit Esau mitzuhalten. Wortwörtlich hält er sich an der Ferse des älteren Bruders fest. So kommt er zur Welt, der sogenannte „Fersenhalter“. Als zweiter. Oder man kann sagen. Als letzter. Esau war der Erste, ihm gebührt das Erstgeburtsrecht, mit dem damals etliche Privilegien verbunden waren. Esau war ein schönes Kind – das wird im Hebräischen ausdrücklich festgehalten. Er ist der lebhaftere von beiden. Der Jäger. Der Draufgänger. Jakob hingegen ist ein ruhiger, häuslicher Bub. Als „zufriedenen Mann, der im Zelt blieb“ wird er beschrieben. Es könnte alles so harmonisch sein, die Brüder könnten sich in ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen. Wären da nicht die Eltern mit ihren Wertvorstellungen. Mit ihren Wertungen. Ihrem ewigen Vergleichen. Und so geschieht es, dass Esau zum erklärten Liebling seines Vaters Isaak wird. Mit Esaus markanter, männlicher Art kann der sich wohl besser identifizieren. Während Jakob, der häusliche und sanfte, zum Lieblingskind seiner Mutter Rebekka wird. Der Vater liebt den einen. Die Mutter vergöttert den anderen. Der Grundstein zum Familiendrama ist gelegt. Als Mutter muss ich sagen, dass ich diese Konstellation schwierig finde. Wenn in einer Familie solche Fronten aufgezogen werden. Wenn Charaktereigenschaften gegeneinander aufgewogen und ausgespielt werden. Wenn Liebe so einseitig verteilt ist. Ist es nicht vielmehr die Aufgabe von Eltern, dafür zu sorgen, dass eben kein Kind zu kurz kommt. Sollten Eltern nicht jedes Kind in seiner je eigenen Individualität und Andersartigkeit annehmen, ohne zu vergleichen. Ohne zu werten und vor allem ohne abzuwerten. Und schon gar nicht sollten Eltern ein Kind gegen das andere ausspielen. Aber genau das tut Rebecca. Und die Geschichte von Jakob und Esau zeigt uns, wohin das führen kann. Nicht Hass, sondern Mangel an elterlicher Liebe zerstört die Seelen der jungen Männer. Was folgt ist ein Buhlen um Aufmerksamkeit. Um Anerkennung und Wertschätzung. Und letztendlich auch ums Erbe. Rebekka will, dass ihr Liebling zum Zug kommt. Sie ist es, die Jakob dazu anstachelt, Esau um sein Erstgeburtsrecht, also sein Erbe, und um den Sterbesegen des Vaters zu bringen. Als der totkranke Isaak seinem Erstgeborenen den väterlichen Segen geben will, gibt sich Jakob sich als Esau aus. Mit Hilfe der Mutter, mit den Kleidern seines Bruders und einem Tierfell, das die behaarte Hand Esaus vortäuscht, überlistet er den Vater. Der im Alter blind gewordene Isaak ahnt nichts Böses und segnet - den Falschen. Es ist eine richtig bösartige Intrige, die die Mutter da inszeniert. Als Esau heimkommt und begreift, wie sehr er von Mutter und Bruder hintergangen wurde, schwört er Rache. Sobald der Vater die Augen für immer geschlossen hat, will er Jakob töten. Jakob bleibt keine andere Wahl, als zu fliehen. Hier, auf der Flucht, setzt unser Predigttext ein. Jakob ist unterwegs zu entfernten Verwandten – unterwegs zwischen Vergangenheit und Zukunft. Im Niemandsland seines Lebensweges. Mit dem Betrug hatte er alles, was ihm wichtig war, verspielt. Die Heimat, die Mutter, die Freunde. Als es dunkel wird, hält er an. Wir mag er sich gefühlt haben, Jakob, der sanfte, der sich so gern im Zelt aufhielt und sich von seiner Mutter verwöhnen ließ. Den der Vater wegen seines fehlenden Mutes nicht für voll nahm. Mutterseelenallein ist er. Nur ein Stein bleibt ihm als Kopfkissen und als letztes Mittel, falls er angegriffen wird. Dann schläft er ein. Er träumt. Er träumt von besagter Leiter, die in den Himmel ragt. Er träumt von Engeln, die dort auf und absteigen. Die ein wenig Schwere von uns, von unten aus der Dunkelheit mit hinaufnehmen und ein Stück Himmel auf die Erde bringen. Ein Stück vom Reich Gottes schon jetzt mitten unter uns. Und Jakob vernimmt das Versprechen Gottes, das vor ihm schon sein Vater und sein Großvater hörten. Das große Gottes-Versprechen um Land, Volk und Segen: Ich bin mit dir. Ich will dich behüten, wo du auch hingehst. Und ich bringe dich zurück in dieses Land. Ja, ich verlasse dich nicht, bis ich getan habe, was ich dir zusage. Als Jakob aufwacht, ist der Traum Vergangenheit und doch ist etwas geblieben. Etwas hat ihn in seinem Innersten berührt. Mitten in eine Traumphase hinein hatte Gott ihm das richtige Bild und den passenden Ton geschickt. Und Jakob ist sich sicher: Das war nicht nur ein lapidarer Traum. Nein: Der Herr selbst war an dieser Stätte. Jakob sagt das laut. Obwohl niemand da ist, der ihm zuhören würde, bekräftigt er diese Worte: : Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! und Jakob setzt Gott ein Denkmal. Als er weiterzieht, liegt die Schuld zwar nach wie vor auf seinen Schultern, aber sie erdrückt ihn nicht mehr. Wenn er an Vater und Bruder denkt, schämt er sich, aber er glaubt, was Gott ihm versprochen hat, nämlich, dass er zurückkehren wird. Dass Frieden herrschen wird zwischen ihm und seinem Bruder. Jakob hatte einen Traum. Und dieser Traum von der Himmelsleiter verändert Jakobs Leben. Liebe Gemeinde: Hier möchte ich noch einmal auf meine Eingangsfrage zurückkommen. Wie gehen WIR mit unseren Träumen um. Belächeln wir sie als merkwürdiges Durcheinander von Tagesresten? Oder schätzen wir sie wert, staunen und fragen, was sie uns sagen wollen. Für den Benediktinerpater Anselm Grün – der im deutschen Münsterschwarzach, nahe meinem Heimatort, lebt und lehrt, gilt der Traum auch heute noch als Ort der Gottesbegegnung. Er folgt damit einer christlichen Tradition, deren Anfänge im Mönchtum der ersten beiden Jahrhunderte liegen. Damals war man davon überzeugt, dass Träume uns einen anderen Zugang zu uns selbst und zum Transzendenten, also zu Gott ermöglichen. Dann, wenn jene Gedanken ruhen, die wir uns selbst machen und jene Gefühle, die wir uns erlauben, dann sind unsere inneren Ohren offen für die Stimme, die tagsüber untergeht. Und unsere inneren Augen sehen, was wirklich ist oder was sein könnte. Dass Träume in der weiteren Geschichte des Christentums aus der Wahrnehmung verschwanden ist nicht zuletzt Papst Gregor dem II zu verdanken, der Träume im 8. Jahrhundert als Verführung des Teufels brandmarkte. Für die damalige Kontrollinstitution Kirche was das Unkontrollierbare, das Flüchtige des Traums schwer als gottgeschenkt zu akzeptieren. Liebe Gemeinde, ob Träume und welche Träume uns wirklich Gottes Stimme hören lassen, diese Frage kann man nicht endgültig beantworten. Das EINE Traumverständnis der Bibel gibt es nicht. Trotzdem glaube ich, dass es wichtig ist, hinzuschauen, hinzuhören und nachzuspüren. Innezuhalten und auf unsere innere Stimme zu achten. Es geht um das Suchen und Ringen um das Hören der Stimme Gottes in unserer Welt. Und unser heutiger Predigttext zeigt uns, dass Gottes Stimme manchmal gerade dort erklingt, wo wir sie nicht erwarten. In der Einsamkeit. In der Angst. In der Schuld und im schlechten Gewissen. In der angeblichen Gott-Verlassenheit. Schließen möchte ich mit einem Zitat von Johannes Calvin: „Wer sein Nachsinnen über seine Träume in Gebete verwandelt, gewinnt zur vertieften Selbsterkenntnis eine vertiefte Sicht der Barmherzigkeit Gottes.“ Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus - AMEN (Viele Anregungen sind entnommen aus: Werkstatt für Liturgie und Predigt - Bergmoser + Höller)
  • WENN WUNDER WAHR WERDEN
    Es war einmal ein Mensch, der fand auf einem Berggipfel ein Adlerei. Er nahm es mit und legte es in das Nest einer gewöhnlichen Henne, die es ausbrüten sollte. Als es an der Zeit war, schlüpfte das Adlerküken mit all den andern Küken aus, denn es hatte ja mit ihnen im selben Nest gelegen. Im Kreise der Hühnerküken wuchs das kleine Adlerchen auf. Und bald lernte es, wie sie- zu gackern, in der Erde zu scharren, nach Würmern und Insekten zu suchen. Ab und zu hob es seine Flügel und flatterte auf einen der unteren Äste der Bäume, ganz wie die anderen Hühner. Es lebte in dem Bewusstsein, ein Huhn zu sein. Jahre vergingen, und der Adler wurde alt und grau. Eines Tages blickte er zum Himmel empor und sah etwas Wunderbares. Hoch oben, im unendlichen Blau, schwebte ein herrlicher Vogel, fast ohne mit seinen mächtigen Flügeln zu schlagen. Voll Ehrfurcht blickte der alte Adler dem Vogel nach und wandte sich beeindruckt an das nächste Huhn: „Was ist denn das für ein Vogel?“ Das Huhn schaute nach oben und erwiderte: „Oh, das ist der Goldadler, der König der Lüfte. Aber verschwende keinen Gedanken mehr an ihn. Du und ich sind von anderer Art, wir gehören hier auf die Erde.“ Also schaute der Adler nie mehr nach oben und starb schließlich in dem Glauben, ein Huhn im Hof zu sein. So war er immer von allen behandelt worden, so war er aufgewachsen, so hatte er gelebt. Liebe Gemeinde, vielleicht kennen Sie diese bekannte Parabel vom Adler und den Hennen. Sie stammt vom indischen Jesuitenpriester Anthony de Mello. Und sie beschreibt ein Phänomen, das Ihnen vielleicht auch vertraut ist. Wie oft leben wir im Glauben, dass wir in der Welt ja doch nichts ändern können. Dass es im Leben letztendlich darum geht, zu funktionieren. Sich abzufinden. Sich mit Gegebenheiten zu arrangieren. Mit Ungerechtigkeiten. Mit Unzulänglichkeiten. Dass das aber nicht so sein muss, lehrt uns der Text, um den es heute geht. Er stammt aus dem ersten Jahrhundert nach Christus aus der Feder des Evangelisten Lukas. Hören sie den Predigttext aus der Apostelgeschichte, Kapitel 3, die Verse 1-10 1 Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. 2 Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. 3 Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. 4 Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! 5 Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. 6 Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! 7 Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, 8 er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. 9 Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. 10 Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor dem Schönen Tor des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war. Gott segne Reden und Hören! Liebe Gemeinde, hätte ich mir selbst einen Text für meine erste Predigt in dieser, meiner neuen Gemeinde aussuchen können, es hätte eigentlich kein schönerer sein können! Ich mag diesen Text, weil er in so vielerlei Hinsicht bemerkenswert und vielschichtig ist. Auf den ersten Blick erzählt er von einem großen Wunder. Einem Heilungswunder, wie wir sie von Jesus kennen. Aber daneben verstecken sich noch weitere kleine, ganz unscheinbare Wunder. wundersame Momente, die nötig waren, damit das Große Wunder überhaupt möglich war. Was braucht es, für ein Wunder? Was können WIR tun, damit Wunder wahr werden. Auf diese Fragen möchte ich gemeinsam mit Ihnen den Blick wenden 1. Wunder: Nicht an Plänen festhalten Das erste Wunder findet schon vor der Kirchentüre statt. Petrus und Johannes sind auf dem Weg zum Tempel. Es ist drei Uhr nachmittags – Zeit fürs Mittagsgebet. Sie wissen genau, wo sie hinwollen. Sie haben einen Plan, ein Ziel und ganz bestimmt wollen sie pünktlich zum Gottesdienst kommen. Aber da haben Petrus und Johannes die Rechnung ohne den Herrn gemacht. Der möchte nämlich, dass ihr Dienst heute an einem anderen Ort stattfindet. Vor der Kirche. Dort, wo ein Mensch Hilfe braucht. Dort ist heute genau der richtige Ort für ihren Gottesdienst. Und Petrus und Johannes lassen sich tatsächlich aufhalten. Sie lassen sich bei ihrem wohlgemeinten Vorhaben, dem Gang zum Mittagsgebet, unterbrechen. Es geht nicht darum, dass sie ihren eigenen Plan duchziehen. Nein, heute lassen sie sich aufhalten und sie sind offen für einen Menschen, den Gott ihnen im wahrsten Sinn des Wortes vor die Füße legt. (Liebe Gemeinde, wenn ich an mein eigenes straffes Leben denke, in dem so vieles unter einen Hut zu bringen ist: - dann gleicht so ein Moment schon einem kleinen Wunder. Ein Moment, in dem ich mich auf- und abhalten lasse von meinem Zeitplan. Ein Moment, in dem ich offen bin, für den Menschen und den „Kairos“, den Gott für mich bereitet. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich?) Und damit kommen wir zum zweiten Wunder 2. Wunder: Nicht Defizite bedauern, sondern Erwartungen brechen und Gaben einsetzen Da ist dieser Mann, der von Geburt an gelähmt ist. Jeden Tag sitzt er vor dem Tempel und bittet um Almosen. Sicherlich erwartet er auch, dass er von Johannes und Petrus das bekommt, was er braucht: Geld. Ein kleines Almosen, um den nächsten Tag zu überstehen. Und ich kann mir vorstellen, wie überrascht und sicher auch enttäuscht er war, als die Apostel sagten: Wir haben kein Gold und auch kein Silber. Aber das, was wir haben, das geben wir dir. Liebe Gemeinde: Diese beiden Apostel wissen sehr genau, was sie haben und was sie nicht haben. Sie haben nicht das, was das Gegenüber von ihnen erwartet. Kein Gold, kein Silber, kein Geld. Und sie wagen es, das auszusprechen. Sie verbalisieren das. Sie halten das aus. Ist das nicht eine großartige Haltung? Ein großartiges seelsorgerliches Vorbild für eine Leistungsgesellschaft wie unsere, die immer darauf bedacht ist, zu betonen, dass sie doch alles im Griff hat. Die immer darauf bedacht ist, den schönen Schein zu wahren und allen Erwartungen gerecht zu werden. (Und) Wie viele zerbrechen daran? Petrus und Johannes halten es aus, dass ihr Gegenüber wohl erst einmal enttäuscht ist. Liebe Gemeinde, auch ich werde vielleicht in meinem Dienst in Ihrer, in UNSERER Gemeinde Erwartungen enttäuschen. Werde vielleicht nicht immer das haben und bieten, was manch einer erwartet. So wie sich der Mann vor dem Tempel damals zunächst etwas anderes erwartete als das, was er schließlich bekam. Aber ich hoffe, dass es wie bei Petrus und Johannes nicht beim Defizit bleibt. Denn diese beiden machen uns vor, worum es eigentlich geht. Sie lenken den Blick auf die Besitztümer, die sie haben. Auf die Gaben, die Gott ihnen mitgegeben hat. Die setzen sie ein. Für sich und für andere. Wie? Zuerst einmal benutzen sie ihre Augen, um den Bettler zu sehen. Ihn wirklich anzusehen. Sie schenken ihm Beachtung und geben ihm so ein Stück seiner Würde zurück. Ihn, der sonst wie ein namenloser lebloser Opferstock behandelt wird, in den man schnell im Vorbeigehen ein paar Münzen wirft, ihn machen sie wieder zu einem Menschen. Weil sie ihn ansehen, ansprechen und berühren. Sie setzen ihre Augen, ihren Mund, ihre Hände ein, um den Gelähmten, den Ausgestossenen zurück ins Leben zu holen. Zurück in die Gemeinschaft. Liebe Gemeinde, egal, welche Defizite wir heute mit uns herumtragen. Ich bin sicher, dass jeder unter uns genau so etwas in sich trägt, das dazu beitragen kann, Menschen gesund werden zu lassen. In Menschen den Adler sichtbar zu machen. Stellen Sie sich diese Frage: Womit hat Gott mich ausgestattet? Was habe ich bereits? Nur wenn wir wissen, was wir haben, können wir geben. Wenn wir verantwortungsvoll und offen mit unseren Stärken und Schwächen umgehen, anstatt alle Erwartungen gleichermaßen zu erfüllen. Dann können kleine und große Wunder geschehen und Menschen können zu denen werden, die Gott schon längst in ihnen sieht. Und damit kommen wir zum dritten Wunder. Zum Wunder des Glaubens. 3. Wunder: Glaube kann Berge versetzen Petrus sagt zu dem von Geburt an Gelähmten: Steh auf und geh. Liebe Gemeinde: Was für ein unendlich tiefes Gottvertrauen kommt in diesen Worten zum Vorschein. Denn war es nicht ziemliches gewagt, so zu sprechen? Schließlich hatte Petrus noch nie vorher jemanden geheilt. Er war zwar dabei, wenn Jesus Menschen an die Hand genommen, sie angesprochen und berührt hatte. Aber selbst hatte er das noch nie getan. Nach menschlichem Ermessen könnten wir heute sagen: Das hätte auch schief gehen können. Aber Petrus glaubt! Er glaubt nicht an sich. An seine eigene Wunderkraft. Sein Glaube ist weder egoistisch noch selbstbezogen. Sein Glaube und sein Vertrauen richten sich auf den in dessen Namen er dieses Wunder vollbringt. Er sagt: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh. Petrus setzt alles Vertrauen in den, der unser Leben in den Händen hält. In Gott, durch den allein wir Adler sind, nicht Henne. Und es ist fast so, als würden sich der Glaube und die Zuversicht des Petrus durch die gereichte Hand auf den Gelähmten übertragen. Denn der dreht sich nicht einfach belustigt ab. Nach dem Motto: Was ist denn das für ein Spinner. Nein. Er nimmt die Hand des Petrus. Der Gelähmte nimmt die Hilfe, die ihm geboten wird, an – auch etwas, das nicht selbstverständlich ist. Der Gelähmte vertraut dem Fremden, der mehr in ihm sieht als einen Verkrüppelten. Steht auf. Nach vierzig Jahren in denen er nur getragen worden war, steht er auf eigenen Beinen. Seine Gelenke werden stabil, sein Tritt wird hart. Das, was ihn lähmte ist wie weggeblasen. Außer sich vor Freude springt er in die Luft, rennt in den Tempel und lobt Gott. Jetzt endlich darf er den Ort betreten, der für ihn als Mensch mit Behinderung sein ganzes Leben lang tabu war. 4. Wunder: Menschen öffnen sich für neue Wege, neue Sichtweisen Und dort, im Tempel, geschieht das letzte Wunder. Denn die Gemeinde, die dort versammelt ist, um zu beten, reagiert fassungslos auf den Lahmen, der nun plötzlich gehen kann. In einer anderen Übersetzung heißt es, sie geraten in Ekstase. Sie sind völlig außer sich. Aber nicht im negativen Sinn. Nein vielmehr wachsen sie über sich hinaus. Die Menschen, die den Mann seit Jahrzehnten kannten, die in ihm immer nur den Lahmen vor dem Tor gesehen haben, unwürdig, mit ihnen gemeinsam den Tempel zu betreten – diese Menschen erkennen nun, dass sich etwas geändert hat. Sie lassen sich darauf ein. Sie sind bereit Geschehnisse wahrzunehmen und anzuerkennen, die außerhalb des Gewohnten liegen. Außerhalb des Menschenmöglichen. Gott lässt in dieser Gemeinde das Wunder geschehen, dass Menschen offen sein können für Neues, für Ungewohntes, für göttliches Wirken. Da darf sein, was eigentlich nicht sein kann. Da muss nicht alles so bleiben, wie es immer schon war. Da können neue Wege beschritten werden. Im Vertrauen auf Gott. Liebe Gemeinde, diese Offenheit, dieses Vertrauen und diese Bereitschaft für das Wirken des Heiligen Geistes, das ist für mich das Wesen des Christentums. Christsein bedeutet für mich das Gegenteil von Stillstand und Resignation, so wie Dorothee Sölle einmal gesagt hat: „Da kann man nichts machen, ist der gottloseste aller Sätze.“ Ja, Christsein heißt für mich, zu glauben und zu vertrauen, dass sich Dinge und Verhältnisse ändern lassen. Dass auch ich selbst mich ändern kann, dass meine Defizite mich nicht bestimmen müssen, weil Jesus Christus selbst mich von meinen Lähmungen befreien will. Er möchte uns allen auf die Sprünge helfen, unsere Fesseln lösen. Und dazu, liebe Gemeinde, können wir beitragen. Wir können mithelfen, dass Gottes Wunder sichtbar werden. Und hier komme ich noch mal zur Eingangserzählung vom Adler und der Henne zurück: Liebe Gemeinde: An uns liegt es, ob wir in uns selbst und in anderen Adler oder Hennen sehen. Ob wir als Adler oder als Hennen leben und sterben. Es liegt an uns, als Individuen. Und es liegt an uns, als Gemeinde. Ich selbst träume von einer Kirche, die das Beste in den Menschen zum Vorschein bringt. Von einer Kirche, die bereit ist, über sich hinauszuwachsen. Einer Kirche, in der die Worte: Das war schon immer so – keine Richtschnur sind. Ich träume von einer Kirche, die Misstrauen, Kränkungen die immer gleichen Rollenzuschreibungen und Lähmungen überwinden kann. Einer Kirche, in der wir einander mit den Augen von Glaube, Hoffnung und Liebe ansehen. In der wir die Adler sehen und uns gegenseitig helfen, die Schwingen zu entfalten und zu fliegen. Nicht, weil wir selbst so wichtig und so großartig sind, sondern weil wir vertrauen. Vertrauen auf den, der uns trägt und hält und seit jeher seine Flügel über uns breitet, wie eine Adlermutter über ihre Jungen. Davon träume ich. Daran glaube ich. Daran möchte ich mitarbeiten – gemeinsam mit Ihnen! Amen Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN Predigt Apostelgeschichte 3,1-10 12. Sonntag nach Trinitatis 8. September 2019 Lutherische Stadtkirche
  • VOR GOTT SIND ALLE GLEICH
    Predigt A&O-Gottesdienst 6. Mai 2018, Lutherkirche Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns allen - Amen „Ich bin seit vielen Jahren HIV-positiv“ mit diesen Worten gab Tom Neuwirth, besser bekannt als Conchita Wurst vor kurzem ihr HIV-Outing bekannt. „Ich bin seit vielen Jahren HIV-positiv. Das ist für die Öffentlichkeit eigentlich irrelevant, aber ein Ex-Freund droht mir, mit dieser privaten Information an die Öffentlichkeit zu gehen, und ich gebe auch in Zukunft niemandem das Recht, mir Angst zu machen und mein Leben derart zu beeinflussen." Es ist schwer, sich vorzustellen, wie unruhig es im Inneren eines Menschen zugehen muss, wenn man sich durch solche Umstände gezwungen sieht, etwas preiszugeben, was man gerne privat gehalten hätte. Vermutlich ahnte Tom Neuwirth, was folgen würde. Er stammt aus der tiefsten Steiermark und er weiß, was es heißt, wegen seiner Sexualität diskriminiert zu werden. Und was folgte, war ein gewaltiges, weltweites Echo in den Medien und vor allem in den sozialen Medien - im Internet. Neben vielen Verständnisbekundungen schlug Conchita Wurst aber vor allem auch eine Schlammlawine an Hass, Häme und Verachtung entgegen. „Blöd, dass Tom ein HIV-kranker, schwuler und armseliger Homo ist“, „das erste Positive an der Wurst“ oder „Die armen Kinder, denen der Wurschtl die Hand gegeben hat, auch wenn es nicht so ansteckend ist“ – und das sind noch harmlose Beispiele. Solch einen Hasslawine, so einen Shitstorm musste Conchita Wurst schon einmal erleben. Damals bevor sie für Österreich den Songcontest gewann. Bevor sie plötzlich zur österreichischen Nationalheldin erklärt wurde. Damals, vor dem Songcontest, da wurde sie genüsslich in aller Öffentlichkeit beschimpft und verachtet. Weil sie eine Frau mit Bart war. Weil sie anders war. Das Andere, liebe Gemeinde, das Fremde, das halten wir Menschen oft nur schwer aus. Die andere Meinung, die so gar nicht unsere eigene ist. Der andere Lebensentwurf, mit dem wir nichts anfangen können. Die fremde Kultur, die uns Angst macht. Einer, der das Anderssein nicht nur aushält, sondern in sich vereint und versöhnt, das ist Gott. Im Brief des Apostel Paulus an die Galater heißt es im dritten Kapitel: Galater 3,26-28 Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier. Hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus Und Im Brief des Paulus an die Römer heißt es im 2. Kapitel: Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Liebe Gemeinde: Alle sind gleich vor Gott. Verschiedenheiten spielen bei ihm keine Rolle mehr. Standesunterschiede werden aufgehoben, Fremdes wird zusammengefügt, – so ist das bei Gott. Das klingt schön, harmonisch, ein wenig kitschig! und mit unserer gelebten Realität mit unserem Leben hier in dieser Welt lassen sich diese Worte kaum vereinbaren. „Dass vor Gott alle Menschen gleich sind, wie die Bibel lehrt, hat das Missverständnis ausgestreut, auf der Erde seien alle Menschen gleich“, hat der deutsche Satiriker Hans Kasper einmal bissig festgestellt. Gleich – liebe Gemeinde – das sind wir hier in dieser Welt einfach nicht. Und gleich – im Sinne von Uniformität - so hat Gott uns auch nicht erschaffen. Wir Menschen unterscheiden uns nicht nur in unseren angeborenen Fähigkeiten und Begabungen. Wir haben auch völlig unterschiedliche Lebensentwürfe. Denn wie wir unser Leben leben, welche Chancen wir nutzen und welche Werte wir für wertvoll halten, das hängt noch immer auch davon ab, in welches soziale und kulturelle Umfeld wir hineingeboren werden. Und ob wir es schaffen, uns von diesem Umfeld zu lösen. Eigentlich gäbe es in Österreich, in diesem schönen, wohlhabenden Land, die Freiheit und auch den Raum, dass all die verschiedenen Persönlichkeiten, Meinungen und Lebenskonzepte ruhig und friedlich nebeneinander bestehen könnten. Aber in letzter Zeit habe ich immer öfter das Gefühl, dass wir diese Freiheit kaum noch schätzen. Dass wir sie nicht aushalten. Dass uns diese Freiheit und die Verschiedenheit überfordern. Immer öfter suchen wir Homogenität, wir suchen Sicherheit, suchen Gleichgesinnte und grenzen uns gegen alle Andersdenkenden ab. Und wo Grenzen sind, da werden auch die Gräben tiefer. Da sind zum Beispiel auf der einen Seite jene, die wieder verstärkt die Heimat glorifizieren, Dirndl und Lederhose tragen, die sich vor „Überfremdung“ fürchten und laut nach Grenzsicherung und Grenzschließung rufen. Auf der anderen Seite gibt es die Weltoffenen, die Liberalen, die oft in den sogenannten Bobo-Bezirken leben und die sich ihrerseits gegenüber allem abgrenzen, was nicht weltoffen und nicht liberal ist. Die Toleranzgrenze endet dann ganz schnell hinter der eigenen Meinung. Das eigene Weltbild wird zur allgemeingültigen Wahrheit erklärt. Alles andere wird verurteilt. Oder verachtet. Die Politik kennt diese Mechanismen und sie bedient sie. Sie befeuert sie. Aber, liebe Gemeinde, das ist es nicht, was Kirche tun soll. Die Kirche möchte ein Ort sein, an dem alle Platz haben und unterschiedliche Meinungen ausgehalten werden können. Jesus selbst hat uns das vorgelebt. Jesus selbst hat keinen Unterschied gemacht zwischen Menschen, zwischen Freunden und Feinden, Familie und Fremden. Seine Empathie, seine Leidenschaft, seine Liebe galt allen – auch und gerade denen, die vom Großteil der Gesellschaft nicht anerkannt wurden. Als Jesus gefragt wurde, was das höchste Gebot sei, antwortete er: „Ihr sollt Gott von ganzem Herzen lieben und ihr sollt eure Mitmenschen lieben, wie euch selbst.“ In der Bergpredigt formuliert er es so: „Alles, was ihr wollt, dass die Menschen euch tun – so tut auch ihnen!“ Liebe Gemeinde, was heißt das für uns? Es heißt, dass unser Verständnis, unsere Empathie und unsere Solidarität nicht bei uns, unserer Familie und unseren Gleichgesinnten enden darf. Den Anderen, den Mitmenschen zu lieben und ihn anzunehmen, das bedeutet nicht, das wir seine Meinung oder seinen Lebensentwurf teilen müssen. Aber wir sollen bereit sein, zu staunen, wie unterschiedlich, wie andersartig er ist. Staunen – nicht verurteilen. Unterschiedlichkeiten respektieren und empathisch aufeinander zugehen, im anderen immer einen gleichwürdigen Menschen sehen – das sind sie die vielbeschworenen christlichen Werte. Die von der Politik derzeit viel zu oft für eigene Zwecke umgedeutet und instrumentalisiert werden. Folgen wir Jesus, dann hat niemand das Recht, sich über andere zu erheben. Niemand hat das Recht, andere zu diskriminieren und niemand hat das Recht, die Menschenwürde des anderen zu verletzen. Egal ob solche Versuche von rechts oder links erfolgen, von Ungläubigen, von Christen oder Muslimen. Häme und Herabwürdigungen, wie Conchita Wurst sie erfahren hat, sind mit christlichen Werten nicht vereinbar. Die dürfen wir nicht schweigend hinnehmen, egal, ob wir uns mit ihrem Lebensentwurf und ihren Werten identifizieren. Natürlich wird und darf es immer Menschen geben, die mit Homosexualität nichts anfangen können, die sich vielleicht vor dem für sie Unbekannten fürchten. Aber wir, in der Lutherkirche, wollen uns nicht von Furcht leiten lassen. Wir wollen ein Zeichen setzen, dass wir die Abwertung von Menschen nicht mittragen - egal welcher sexuellen Identität und Orientierung. Daher bekommen wir heute das Zertifikat als A&O-Gemeinde verliehen. Das heißt, wir werden künftig auch Hochzeitsfeiern für homosexuelle Paare anbieten. Der Österreichische Verfassungsgerichtshof hat im vergangenen Dezember den Weg frei gemacht für die Ehe für alle. Das Gericht urteilte, dass alles andere diskriminierend wäre. Und dieser Meinung sind wir, die Pfarrerinnen und das Presbyterium der Lutherkirche, auch. Verstehen Sie mich nicht falsch. Die Kirche muss nicht mit der Zeit gehen, nicht alle Neuerungen der Gesetzgebung unkritisch für sich übernehmen – nein. Aber solche weltlichen Urteilssprüche können für die Kirche ein Anlass sein, die Bibel mit einem neuen Blick zu übersetzen und neu zu interpretieren. Es ist eine wichtige Aufgabe der Theologie, über Zeiten und Befindlichkeiten hinauszugehen und sich vor Veränderung nicht zu fürchten. Und manchmal verbirgt sich hinter dem Zeitgeist der heilige Geist. Und so sind wir der Meinung: Wenn immer zwei Menschen verantwortlich zusammenleben und füreinander einstehen, wirkt Gottes Segen, unabhängig welchen Geschlechts. Denn: Vor Gott, liebe Gemeinde, sind alle Menschen gleich. Und mit Gottes Hilfe kann ein Stück von seinem Reich schon hier beginnen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, Jesus Amen
  • WER NICHT FÜR MICH IST...
    Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr Lk 11, 14-23 Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen. BRIEF einer Schwiegermutter Lieber Thomas, das wird vermutlich das letzte Mal sein, dass ich mich persönlich an Dich wende. Sibylle wünscht nicht, dass irgendjemand aus der Familie - und erst recht nicht ich als ihre Mutter - weiter Kontakt zu Dir hält. Zu tief sind die Kränkungen und die Wunden, die Ihr Euch im Lauf Eurer Scheidung zugefügt habt. Dabei hatte doch alles so wunderbar begonnen. Ich erinnere mich noch gut, wie Du zum ersten Mal bei uns auf der Türschwelle standest. Mit feuchten Händen, die mir einen Blumenstauß – ich glaube gelbe Tulpen waren es – und eine Schachtel Pralinen überreichten. Ich hatte Dich sofort ins Herz geschlossen. Umso mehr bricht es mir das Herz, dass ich Dich nun verliere. Dass ich mich zwischen Euch entscheiden muss. Aber ich muss es tun - Euren Kinder, meinen Enkeln zu liebe. Sibylle ist der Überzeugung: Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Und wer gegen sie ist, der habe auch kein Recht, weiter Kontakt zu ihren Kindern zu halten. Ich wage es nicht, ihr zu wiedersprechen. Daher sage ich Dir mit diesem Brief „Lebwohl“. In Gedanken bin ich bei Dir, in Liebe, Deine Schwiegermama Helga „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ So, liebe Gemeinde, lautet der letzte Satz unseres heutigen Predigttextes. Er steht bei Lukas im 11. Kapitel und ich bitte Sie, für die Lesung aufzustehen: Aus der Bibel gelesen: Jesus und die Dämonen, LK 11, 14 - 23 Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich. Ich weiß nicht, wie es Ihnen dabei geht, liebe Gemeinde, aber ich störe mich an diesem Satz. Für mich – gegen mich – das klingt nach gut gegen böse, schwarz gegen weiß. So ein Schwarz-Weiß-Denken wird ja gerne benutzt, wenn es darum geht, andere kollektiv zu verunglimpfen und sich über andere zu erheben. US-Präsident George W. Bush benutzte diese biblischen Worte, um seinen Afghanistankrieg zu rechtfertigen. Nach dem 11. September 2001 sagte er in einer Ansprache an das Amerikanische Volk und an die ganze Welt: „Wer nicht für uns ist, ist für die Terroristen. Das ist ein Kampf zwischen Gut und Böse.“ Aber auch hier bei uns, hier in Österreich habe ich das Gefühl, dass wir immer öfter in Schubladen denken. Dass wir die Welt in Schwarz und Weiß einteilen. Die Fronten sind verhärtet – für Grau scheint da kein Platz zu sein. Ich denke da an den jüngsten Nationalratswahlkampf. SPÖ-Wähler haben Strache-Wähler aus ihren Facebook-Freundeslisten gelöscht. Kurz-Wähler wollten sich mit Kern-Wählern nicht mehr an einen Tisch setzen. Pilz-Anhänger haben Grünen-Anhänger diffamiert und umgekehrt. Verständnis füreinander oder Dialog untereinander schien meist unmöglich – und fast immer unerwünscht. Oder ich denke an die aktuelle Hashtag Metoo-Bewegung. Wenn man sich in den Medien und vor allem in den sozialen Medien umsieht, dann scheint es nur mehr zwei Extreme zu geben: Grapschende Männer oder überkorrekte Feministinnen. Auch in dieser Debatte fehlen mir die Zwischentöne, Platz für Unsicherheit, für Verständnis, für Dialog. Frostige Verhältnisse herrschen auch zwischen Veganern und Fleischessern Rapidler gegen Austrianer Falter-Leser gegen Krone-Leser. Das Ganze ließe sich beliebig fortführen. Es ist eine polarisierte Gesellschaft, in der wir leben. Zweifel, Unsicherheit oder Unentschlossenheit haben keinen Platz. Oder sie werden als Schwäche ausgelegt. Natürlich ist es ja auch irgendwie bequem, sich auf eine Seite zu schlagen. Wer mit der Masse der angeblich „Guten“ mitschwimmt, der wird sich immer im Recht fühlen. Der braucht sich nicht ständig selbst zu hinterfragen, der braucht nicht einmal mehr über den Tellerrand zu blicken. Weiß gegen Schwarz, gut gegen Böse – das ist Populismus. Und das ist eine Begleiterscheinung unserer Welt geworden. Aber das kann es ja wohl unmöglich sein, worin uns der Evangelist Lukas mit dieser Bibelstelle bestärken wollte. Nein, liebe Gemeinde. Im Gegenteil. Jesus ging es nicht darum, die Menschheit zu spalten. Oder sie für irgendeine weltliche Sache zu gewinnen. Das, was im Lauf der Jahrtausende aus diesem Satz gemacht wurde, so wie er missbraucht wurde, war vielmehr das Gegenteil dessen, was Jesu Anliegen war. Was aber war sein Anliegen? Was heißt es, FÜR Jesus zu sein? (Dafür lesen wir doch noch einmal den Anfang des Predigttextes.) „Jesus trieb einen Dämon aus, der war stumm. Und es geschah, als der Dämon ausfuhr, da redete der Stumme.“ Zugegeben. Wir als aufgeklärte Menschen stören uns leicht an dem Wort Dämon. Das klingt nach Fantasy oder nach finsterem Mittelalter. Dem Stoff aus dem gute Hollywood Horrorfilme gemacht sind. Für die Menschen damals, und auch für Lukas, waren Dämonen aber schlicht und einfach Realität. Krankheiten wie die Epilepsie, vor allem aber psychische und psychosomatische Störungen wurden ganz selbstverständlich durch das Wirken böser Geister erklärt. Man wusste es einfach nicht anders. Wer damals stumm war, der hatte also nicht nur ein Handicap. Der galt auch noch als besessen und war damit erst recht aus der Gesellschaft und aus dem sozialen Gefüge ausgeschlossen. Der Stumme, der Besessene – er gehörte nicht dazu – zu den Guten. Ich stelle mir vor, wie gerne dieser Stumme wohl manchmal mitgeredet hätte. Wie gerne er den Mund aufgemacht und auf sich aufmerksam gemacht hätte. Wie gerne er wohl manchmal geschrien hätte – aber es war ihm unmöglich. Er blieb doch immer stumm. Bis – ja bis Jesus kam. Jesus ging auf diesen Menschen am Rande der Gesellschaft, auf diesen Ausgestoßen, diesen Besessenen zu. Vielleicht legte er ihm die Hand auf. Vielleicht redete er ihm gut zu. Jedenfalls vertrieb Jesus den Dämon, der diesen Menschen am Reden hinderte. Auch wenn wir heutzutage nicht mehr an Dämonen glauben und schon gar nicht an Teufel und Beelzebuls, so glaube ich doch, dass jeder von uns so eine Art inneren Dämon kennt. Einen inneren Dämon, der uns verstummen lässt. Der uns daran hindert, den Mund aufzumachen. Ich denke da an die vielen tausenden Frauen, die in ihrem Leben und insbesondere in ihrem Berufsleben sexuelle Belästigungen erfahren mussten, und trotzdem geschwiegen haben. Die erst jetzt in Zusammenhang mit der Social-Media-Welle unter dem Hashtag Metoo, wagen zu sprechen. Was war ihr Dämon? Ich vermute, in den meisten Fällten war es die ganz reale Angst. Die Angst davor, dass niemand ihnen glaubt. Die Angst davor, in das Eck der feministischen Mimosen gestellt zu werden. Die Angst davor, den Job zu verlieren und ausgegrenzt zu werden. Sie haben geschwiegen und damit – ohne es zu wollen - ein System der sexuellen Übergriffigkeiten stillschweigend unterstützt. Ich denke aber auch an die Mutter, deren Brief ich eingangs vorgelesen habe. Warum verschweigt sie der Tochter, dass sie den Kontakt zum Schwiegersohn gerne weiterführen möchte? Dass es ihr eigentlich das Herz bricht. Warum lässt sie sich instrumentalisieren und denkt, dass es besser ist, zu schweigen? Vermutlich - aus falsch verstandener Solidarität. Aus Angst, die Tochter zu verletzen. Aus Angst, die Enkel zu verlieren. Und da ist er, der Dämon. Und er heißt: Angst. Sicher kennt fast jeder von uns so eine Situation. Eine Situation, in der er gerne etwas gesagt hätte, aber doch stumm geblieben ist. Aus Angst, es sich mit anderen zu verscherzen. Aus Angst, die Harmonie zu stören. Aus Angst, ausgegrenzt zu werden. Aus Angst. Aus Angst schweigen wir. Und übersehen dabei, dass uns diese Angst, dieser Dämon von Gottes Willen und von Gottes Reich entfernen. Jesus sagt: „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ Das Reich Gottes, liebe Gemeinde, das ist schon hier! Der Ort, wo Gottes Wille und sein Wirken schon jetzt spürbar sind, ist mitten unter uns! Gottes Reich - das ist dort, wo wir eben NICHT aus Angst schweigen. Es ist dort, wo wir versuchen, unsere inneren Dämonen zu überwinden – im Vertrauen auf Jesus, der stärker ist als alle Dämonen. Und im Vertrauen auf Gott, der sagt: Fürchte Dich nicht, Du bist mein! Und wenn wir das tun, wenn wir anfangen, zu reden, dann werden vielleicht mehr nachfolgen. Dann werden auch andere ihren Mund auftun. Auch bei der Hashtag Metoo-Kampagne hat eine Frau den Anfang gemacht und zigtausende sind gefolgt. Diese Bewegung hat gezeigt, wie wichtig es ist, zu reden. Wie wichtig es ist, Missstände aufzuzeigen, damit überhaupt ein Bewusstsein für Unrecht entstehen kann. Was Gott aber sicher nicht will, das ist ein öffentlicher Pranger. Genauso wenig wie inhaltsleeres Geplapper, nur, um auch etwas gesagt zu haben. Jenes Reden, zu dem Jesus uns befreit, bedeutet echten Dialog. Echtes Gespräch. Das Reich Gottes, liebe Gemeinde, blitzt überall dort durch, wo wir auf Andersdenkende zugehen. Es ist dort, wo FPÖ- und SPÖ-Anhänger friedlich an einem Tisch diskutieren, Machos und Feministinnen einander zuhören, Veganer und Fleischesser miteinander kochen, Rapidler und Austrianer ohne Polizeieskorte beieinanderstehen. Gottes Reich ist dort, wo wir mit den Worten der Bibel – „sammeln – nicht zerstreuen.“ Ich bin davon überzeugt, dass das möglich ist. Vielleicht nicht unbedingt auf Twitter, Facebook oder Instagram. Aber ein Ort, an dem das besonders gut möglich ist, das ist unsere Kirche. „Kirche sein heißt, zu verbinden und nicht zu polarisieren.“ So hat es unser Bischof Bünker kürzlich in einem Interview ausgedrückt. Kirche sein heißt „Brücken zu bauen, nicht Mauern zu errichten. Eine Kirche ist keine Gesinnungsgemeinschaft. Da muss man unterschiedliche Meinungen und Positionen aushalten können“, sagt Bünker. Liebe Gemeinde, unterschiedliche Meinungen aushalten zu können, das wünsche ich uns. Eine eigene Meinung zu haben, die auch auszusprechen und trotzdem den liebevollen Blick für das Gegenüber – für die angeblich andere Seite - nicht zu verlieren, das wünsche ich uns. Und ich wünsche uns die Fähigkeit, in all dem Gottes Willen zu erkennen, seine Nähe und Liebe zu spüren und sein Reich zu erfahren. BRIEF einer Mutter Liebe Sibylle, mein liebes Kind, Du hast mich gebeten, mich zwischen Dir und Thomas zu entscheiden. Du möchtest, dass ich den Kontakt zu ihm abbreche. Aber ich muß Dir sagen: Ich kann das nicht. Und ich will das nicht. Mein Kind, ich sehe Dich in Deinem Schmerz. Ich sehe die Kränkung, die du durch Thomas’ Verhalten erfahren hast und ich verstehe, dass Du mit diesem Mann nie wieder etwas zu tun haben willst. Aber ICH sehe in Thomas auch den jungen Mann, der Dich in Eurer Schulzeit oft spät abends mit dem Moped sicher nach Hause gebracht hat. Der mit uns am Sterbebett unserer Urli-Oma saß und ich sehe in ihm den Vater Eurer Kinder, meiner Enkel. Meine Entscheidung ist keine Entscheidung gegen Dich, sondern für die Familie. Für Eure Kinder, die ihren Vater auch weiterhin brauchen. Und es ändert nichts daran, dass ich Dich über alles liebe. Ich bitte Dich, meine Entscheidung auszuhalten. Und ich wünsche Dir, dass Du, wenn der Schmerz ein wenig abgeklungen ist, Deinen Blick weiten kannst. Auf Eure Kinder. Und auf Gott, der uns alle liebt. In Liebe, Deine Mama Helga Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus - Amen
  • BRIEFWECHSEL MIT PAULUS
    Predigt am 7. Jänner 2018 Über 1. Korinther 26-31 Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus - Amen 26 Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen. 27 Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; 28 und was gering ist vor der Welt und was verachtet ist, das hat Gott erwählt, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, 29 auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme. 30 Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde durch Gott und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, 31 auf dass gilt, wie geschrieben steht (Jeremia 9,22-23): »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!« Lieber Paulus, Ich hoffe, ich darf Dich so nennen. Wärst Du Österreicher, müsste ich wohl zumindest: „Sehr geehrter Herr APOSTEL Paulus“ schreiben. Mein Name ist Julia Schnizlein, ich bin Vikarin in der Wiener Lutherkirche und ich habe die Aufgabe am Sonntag über Deinen Brief zu predigten, den Du vor knapp 2000 Jahren an die Gemeinde in Korinth geschrieben hast. Irgendwie habe ich Probleme mit Deinem Text und würde da gern noch ein paar Dinge mit Dir klären. Im Studium habe ich ja ein bisschen was über diese Gemeinde gelernt, die Du da im Jahr 50 nach Christus in der griechischen Hafenstadt Korinth gegründet hast. Korinth war damals eine lebendige, eine bunte, eine richtige multikulti und multireligiöse Stadt, in der viele Reiche und Schöne, Kaufleute und Reeder lebten. Aber natürlich lebten da am Rand der Stadt auch viele Arme, Fischer und Landarbeiter, Sklaven, Bedienstete und Tagelöhner. Eben jene, die vom Leben nicht so gut bedacht worden waren. Und genau die waren es, die sich zum Christentum hingezogen fühlten. Es war quasi eine Unterschichtengemeinde, die Du da gegründet hast. Und da verstehe ich natürlich, dass Du gerade diesen armen Menschen, die sich tagtäglich für die Vornehmen abrackerten, denen aber selbst kaum das Nötigste zum Leben blieb, dass Du gerade diesen Menschen DIESE Sätze schreibst. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für sie tröstlich war, zu hören: „Was gering ist vor der Welt, was verachtet ist, das hat Gott erwählt. Damit er zunichtemache, was etwas ist.“ Ich kann mir gut vorstellen, dass es ihnen eine gewisse Genugtuung bereitet haben muss, wenn sie hörten: Nicht viele Weise, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen. Soweit so gut. Aber, lieber Paulus, was soll ich heute mit diesen Worten anfangen. Du musst wissen, meine Gemeinde ist anders, als die Gemeinde in Korinth. Unsere Kirche steht in Wien Währing, also in einem sogenannten Wiener Nobelbezirk. Das durchschnittliche Nettoeinkommen liegt hier bei über 24.000 Euro und damit deutlich höher als im Wiener Durchschnitt. Es gibt 27 Spielplätze und 25 Parkanlagen. 340 Arztpraxen und 12 Apotheken. Es gibt nur rund 2000 Arbeitslose und 43 Prozent der Menschen haben eine Hochschule besucht. Sprich, es geht uns hier wirklich ziemlich gut. Nun kann ich doch diesen Menschen nicht sagen: Macht Euch niedrig, macht euch töricht, seid nur ja nicht Mittelschicht - denn die gilt nichts vor Gott. Wie sollen diese Leute sich fühlen? Immerhin kommen sie in unseren Gottesdienst und leben doch insgesamt ein recht lauteres Leben! Und – ganz ehrlich - auch ich selbst fühle mich natürlich etwas auf den Schlips getreten. Immerhin habe ich sechs Jahre studiert, um hier vorne stehen zu dürfen und du schreibst: Was töricht ist, vor der Welt, hat Gott erwählt, dass er zuschanden mache die Weisen. Ich weiß schon, Demut steht uns allen gut, aber – Paulus - muss es denn so radikal sein? Das war vielleicht für Deine Zeiten, für Deine Gemeinde stimmig – aber heute ist das irgendwie anders. Vielleicht könntest Du so freundlich sein und Deine Worte ein wenig zeitgemäßer gestalten, so dass ich meiner Gemeinde guten Gewissens gegenübertreten kann. Ich freue mich, von Dir zu hören! Mit freundlichen Grüßen Julia Schnizlein Liebe Julia, erst mal fühle ich mich sehr geehrt, dass Ihr meinen Text noch nach 2000 Jahren lest! Und es ist schön, zu hören, dass es Euch so gut geht! Aber ich glaube, dass da ein Missverständnis vorliegt. Ich habe diesen Brief nie geschrieben, um irgendwelchen Menschen zu schmeicheln. Es stimmt schon, dass es in meiner Urchristengemeinde viele Unterpriviligierte gab. Aber es ging nie darum, sie bauchzupinseln oder sie über eine andere Gruppe zu erheben. Im Gegenteil! Glaub mir, keiner will gern auf seine Schwächen angesprochen werden. Das ist heute vermutlich nicht anders als damals. Es ist wohl nach wie vor ein Grundbedürfnis von Menschen, angenommen, geliebt, anerkannt und respektiert zu werden. Und dafür tun Menschen so einiges. So war das damals und so ist das heute. Das fängt schon bei kleinen Kindern an. Brave und liebe Kinder sind oft deshalb so lieb und brav, weil sie gemerkt haben: Wenn ich lieb und brav bin, bekomme ich viel positive Zuwendung. Dann werde ich gemocht und anerkannt. Dieses Muster zieht sich bis ins Erwachsenenalter fort. Menschen gehen grundsätzlich davon aus, dass sie etwas tun müssen, etwas Positives tun müssen, um anerkannt zu werden. Und wenn wir erwachsen sind gilt das Motto: Hast Du was, bist Du was. Und je mehr Fähigkeiten, Kompetenzen, Besitz oder Macht Du hast, umso besser. Oft findet hier ein regelrechtes Imagewettrüsten statt. Wenn ich mir Deine Zeit so anschaue, mit diesen sozialen Medien, in denen jeder nur die schönsten Fotos von seinem Essen, seinem Urlaub, seinem Haus, seinem Auto postet, wo sich jeder nur im besten Licht präsentiert, dann kommt es mir so vor, dass es heute vielleicht sogar noch schlimmer ist, als damals. Ich frage mich ja manchmal, warum die Menschen das Ganze überhaupt mitmachen. Denn diese Tendenz, immer nur das wertzuschätzen, was erfolgreich, beeindruckend, machtvoll oder integer daherkommt, die führt uns doch in eine absolute Sackgasse. Wenn nur der schöne Schein zählt, dann muss jeder permanent darauf bedacht sein, sich nur ja keine Blöße zu geben. Muss funktionieren und voll einsetzbar sein, rund um die Uhr. Und die Folgen? Burn out und Depressionen. Und Ehrlichkeit und Authentizität bleiben dabei doch völlig auf der Strecke. Wollen wir das wirklich? Und: Was passiert mit jenen, die das Niveau nicht halten können? Und ich bin sicher, dieses Phänomen kennst Du auch aus Deinem Leben. Und diese Momente gibt es auch in Deiner Gemeinde, im schönen Währing. Was ist also mit jenen, die krank werden, die alt werden, die aus dem Schönheitsraster herausfallen? Oder jene, die arbeitslos werden oder in Pension gehen und mit ihrem plötzlichen Bedeutungsverlust umgehen müssen? Was passiert mit jenen, die sich scheiden lassen? Wenn plötzlich nichts mehr ist mit schönem Haus oder großer Altbauwohnung und Fernreisen. Plötzlich wird das Geld knapp und das Alleinsein nagt am Selbstbewusstsein. All das kommt im menschlichen Wertesystem doch einem Totalversagen gleich. Bedeutet völlige Niederlage. Nicht aber bei Gott! Bei Gott gelten andere Maßstäbe. Gott sei Dank! Schau mich an. Wie blind und dumm, wie eitel und selbstverliebt war ich doch, als ich bei der Ermordung der ersten Märtyrer begeistert Hurra gerufen habe. Und trotzdem hat Gott mich zu einem Missionar des Glaubens gemacht, sogar so, dass Ihr meine Texte heute noch lest. Oder schau Dir Petrus an. Dreimal hat er Jesus verleugnet, als der ihn brauchte. Ein Totalversager in der Krise! Und ausgerechnet den ernannte der auferstandene Jesus zum Chef der zwölf Jünger! Und so wie Gott uns, nicht wegen, aber trotz unserer Schwachheit ausgesucht hat, so liebte er auch die Gemeinde in Korinth. Es ging mir nicht darum, den Korinthern zu schmeicheln, oder sie in ihrer Schwachheit zu erhöhen. Es ging mir darum, ihnen Mut zu machen. Mut, das Gewöhnliche im Leben, das Nicht-Perfekte, das Defizit und sogar das Misslungene zuzulassen und ins eigene Leben zu integrieren. Im Christentum geht es darum, zu seinen Fehlern zu stehen. Niemand muss so tun, als hätte er keine Fehler. Die gehören nun mal zu uns. Und wir haben einen Gott, dessen Liebe so groß ist, dass er sich davon nicht abschrecken lässt. Vor Gott müssen wir nicht perfekt sein – ganz und gar nicht! Das galt für die Urchristengemeinde genauso wie für Deine Gemeinde in der Lutherkirche. Und weil das so ist, weil Gott eben gerade das Nicht-Perfekte liebt, sollten doch auch WIR noch mal über unser Wertesystem nachdenken. Auch darum ging es mir, mit meinen Worten, die in Euren Ohren heute offenbar etwas radikal klingen. Ich wollte den Blick auf das lenken, was wirklich wichtig ist im Leben. Auf das, was wirklich zählt. Und das funktioniert am besten, wenn man das Leben vom Sterben her betrachtet. Erstaunlicherweise machen sich ja nur wenige Menschen wirklich Gedanken über den Tod. Das zumindest war zu meiner Zeit noch ein wenig anders. Da war der Tod noch omnipräsenter. Und dadurch mehr ins Leben integriert. Aber heutzutage wird er doch größtenteils aus dem Leben und aus dem Denken verbannt. Ihr macht Euch heutzutage mehr Gedanken darüber, ob ihr erfolgreich seid, einmal ein Eigenheim besitzen werdet, ob Eure Söhne und Töchter eine gute Schule besuchen und später mal studieren werden, ob Ihr in der Pension eine Mittelmehr-Kreuzfahrt unternehmen werdet – und habt doch keine Ahnung, ob es je soweit kommen wird. Nur eine Sache, die ist sicher. Sogar todsicher. Wir alle werden eines Tages sterben. Und was zählen sie dann, unsere Bildung, unsere Weisheit, unser Reichtum, unser Ansehen, unsere Mittelmehr-Kreuzfahrt im Angesicht des Todes? Ich glaube, Du kennst die Antwort. Das Leben vom Sterben her denken. Das bedeutet, sich bewusst zu sein, dass alles, was ich bin und habe und tue der Gnade Gottes entspringt. Es ist ein Geschenk Gottes. Und jeden Moment meines Lebens kann es vorüber sein. Alles ist geliehen, nichts verdient, „damit sich kein Mensch vor Gott rühme!“ Liebe Julia, „das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir weggehen.“ Das waren jetzt nicht meine Worte, sondern die eines großen Mannes, der sehr viel später gelebt hat, als ich: Albert Schweizer. Mir gefällt diese Vorstellung sehr gut. Spuren der Liebe zu hinterlassen. Keine großen. Keine bedeutenden. Kein großes Erbe. Sondern kleine, demütige Spuren der Liebe. Bei Gott haben wir diese Spuren längst hinterlassen. In ihm sind wir geliebt, schon jetzt. Ganz ohne unser Zutun. Ist das nicht eine wunderbare, eine befreiende und mutmachende Vorstellung? Das kannst Du Deiner Gemeinde in Währing ausrichten. Und vielleicht entlastet Euch diese Vorstellung, dass Gott Euch liebt so wie ihr seid, vom ständigen Streben nach Mehr. Und umgekehrt verändert diese Vorstellung vielleicht auch Euren Blick auf die weniger Privilegierten. Auf die weniger Gebildeten. Auf die, die nicht immer funktionieren und deren Probleme vielleicht offensichtlicher sind, als bei jenen, die sie besser verschleiern. Nehmt Euch Eures Nächsten liebevoll an! Mit all seinen Fehlern, in all seiner Schwachheit. Kein Christ hat das Recht, sich über andere zu erheben oder auf andere herabzublicken. Sag ihnen das. Denn wie Du schon so schön gesagt hast: Demut steht uns allen gut. Oder in meinen Worten: „Wer sich rühme, der rühme sich des Herrn.“ In diesem Sinne wünsche ich Euch einen guten Gottesdienst, ich hoffe, ich konnte etwas Klarheit ins radikale Dunkel bringen J Alles Liebe Euer Saulus, der erst und allein durch Gottes Gnade zum Paulus wurde Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, Jesus, AMEN
  • DAS LEBEN VOM TOD HER DENKEN
    Predigt Phil. 1, 15-21 Laetare - 11. März 2018 Lutherkirche Wien Liebe Gemeinde, wir befinden uns mitten in der Passionszeit. Einer Zeit, in der wir uns traditionell intensiver mit Leiden, Tod und Sterben auseinandersetzen. Auch im heutigen Predigttext geht es ums Sterben. Er steht im Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Philippi: Einige zwar predigen Christus aus Neid und Streitsucht, einige aber auch in guter Absicht. Diese aus Liebe, denn sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums hier liege. Jene aber verkündigen Christus aus Eigennutz und nicht lauter, denn sie möchten mir Trübsal bereiten in meiner Gefangenschaft. Was tuts aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber. Aber ich werde mich auch weiterhin freuen. Denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi. Wie ich sehnlich erwarte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass ich frei und offen, wie allezeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. Liebe Gemeinde, Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn. Was für eine steile Ansage! Was für ein frommer Spruch! Mir persönlich verschlägt es da erst mal die Sprache. Würde mir ein Freund einen Brief mit so einer Passage schreiben, ich würde mir ernsthafte Sorgen machen. Ich würde ihn vermutlich anrufen und ihn fragen, ob er lebensmüde ist. War Paulus lebensmüde, als er diesen Brief an die Philipper schrieb? Blicken wir doch mal zurück. Wir verlassen das 21. und gehen zurück ins 1. Jahrhundert, nach Kleinasien, in die Stadt Ephesus. Ephesus ist eine glänzende, eine reiche Stadt. Handel und Tourismus blühen. Die Einwohner verehren noch die alten griechischen Götter. Im Zentrum der Stadt steht ein wunderbarer, riesiger Tempel, der für die Göttin Artemis errichtet worden war. Dort, vor dem Tempel, hatte man auch einen Ruhestörer und Aufrührer verhaftet. Einen Mann namens Paulus. Paulus hatte den Tempel und seinen Kult heftig kritisiert. Er hatte behauptet, dass es Artemis überhaupt nicht gibt. Dass die alten Götter eine reine Erfindung von Menschen seien und ihre Verehrung Götzenanbetung sei. Stattdessen behauptete er, ein vor einigen Jahren in Jerusalem gekreuzigter Jude namens Jesus sei der Retter der Welt. Er behauptete, wenn man sich zu diesem Jesus bekehrt, dann wird man von Gott angenommen. Dann gewinnt man den Mut zu einem neuen, ehrlichen Leben. Und man erhält ein ewiges Leben, ein Leben über den Tod hinaus. „Was für ein Unsinn“, dachten sich die Machthaber in Ephesus. Und trotzdem fühlten sie sich von dem, was dieser Paulus da sagte, bedroht. Er bedrohte die alte Ordnung. Dazu kam, dass dieser Paulus für seine Theorien tatsächlich Zustimmung von den Menschen erhielt. Die Zahl der Leute, die ihm folgten, wuchs. Langsam aber stetig. Da konnten die Behörden nicht länger so tun, als wäre nichts. Also ließen sie Paulus für eine Zeit lang hinter Gefängnismauern verschwinden. Zum Zeitpunkt, als Paulus unseren Brief an die Gemeinde in Philippi schreibt, sitzt er quasi in Untersuchungshaft. Die Behörden sind dabei zu prüfen, inwieweit Paulus eine Gefahr darstellt. Ob es reicht, ihn aus der Stadt auszuweisen. Oder ob es am besten ist, ihn zum Tode zu verurteilen. Paulus weiß das. Er hat den Tod vor Augen, als er diese Zeilen schreibt. Und, was für ihn vielleicht sogar noch schlimmer ist: Er ist zum Nichtstun verurteilt. Er, dieser Tausendsassa, dieser Hans-Dampf-in-allen-Gassen, dieser übereifrige Missionar – er muss da in seinem Gefängnis sitzen und warten. Und kann nichts tun. Vermutlich fühlt sich für Paulus schon diese Tatsache an, wie ein kleiner Tod. Dabei will er doch leben. Er hat doch einen Auftrag. Den Auftrag, den Menschen von Christus zu erzählen. Jesu Botschaft zu verbreiten. Vermutlich hat er das Gefühl, die Verbreitung und damit die Zukunft des Christentums hingen von ihm ab. Kennen Sie das auch, liebe Gemeinde? Dieses Gefühl, sie wollen doch so gern, aber sie können nicht. Dann, wenn Sie das Alter spüren. Wenn eine Krankheit Sie ans Bett fesselt. Wenn Niedergeschlagenheit Ihnen alle Lebensenergie raubt. Oder wenn familiäre oder berufliche Verpflichtungen Sie so in Trab halten, dass es keinen Raum mehr gibt für das, was Ihnen wichtig erscheint. Sie wollen so gern, aber Sie können nicht. Und Sie haben das Gefühl, dass ohne Sie alles den Bach hinunter geht. Was für ein Druck... Vielleicht hatte Paulus diesen Druck auch. Und dieser Druck raubte ihm den Schlaf. Allerdings hatte Paulus damals, dort im Gefängnis, auch noch etwas, das uns heute oft abgeht: Er hatte Zeit. Zeit nachzudenken. Ohne Ablenkung. Zeit zur Reflexion. Und Paulus wurde klar: Egal, wie diese Sache für mich persönlich ausgeht. Es liegt nicht an mir, wie es weitergeht. Ich darf mich nicht zu wichtig nehmen. Da ist ein anderer, der für die Zukunft sorgt. Das meint er, wenn er schreibt: Aber ich werde mich auch weiterhin freuen. Denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi. Die Zukunft des Christentums – sie liegt nicht in Paulus’ Hand. Das, was ihm wichtig ist, dafür sorgt nicht er, der Mensch Paulus. Dafür sorgt Gott. ER ist es, der dafür sorgt, dass es jeden Tag einen neuen Morgen gibt. ER ist es, der auch nach den tiefsten persönlichen und globalen Katastrophen ein neues Morgen gestaltet und ER ist es, der für die Zukunft sorgt. Für meine, für Ihre, für die unserer Familien, für die unserer Kirche und für die Zukunft der Welt. Und vor diesem Hintergrund, mit diesem Wissen, kann Paulus loslassen. Er kann vertrauen. In die Zukunft der Christenheit und in seine eigene. Mit Christus im Gepäck muss er auch den Tod nicht fürchten. Sein Tod, der wäre für ihn keine Niederlage. Im Gegenteil: Sein Tod wäre für ihn persönlich sogar ein Gewinn. Als leidenschaftlicher Missionar hat er die Hoffnung, dass sein Sterben einen Sinn haben würde. Dass durch seinen Märtyrertod Christus verherrlicht würde und so noch mehr Menschen zum christlichen Glauben finden. Und dann hat Paulus als Christ für sich selbst eine Hoffnung, die über den Tod hinausreicht. Die Hoffnung, dass das Leben – sein Leben, genau wie unser aller Leben - mit dem Tod nicht endet. Paulus sehnt den Tod nicht herbei, das schreibt er ja auch, aber er ist bereit, ihn freudig zu empfangen. Was für eine beneidenswerte Haltung. Was für eine Größe – dachte ich mir, als ich mich mit diesem Paulustext bei der Predigtvorbereitung auseinandersetzte. Und trotzdem. „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“ Dieser Satz blieb mir persönlich irgendwie fremd. Daher warf ich ihn neulich abends in die Runde, als ich mit einigen Freunden zusammensaß. „Sterben ist mein Gewinn. Wer sagt so was? Außer vielleicht ein Bestattungsunternehmer?“ Betretenes Lachen war die Folge. Dann Schweigen. Bis jemand sagte. „Ich. Ich kann das unterschreiben.“ Wir drehten uns alle ziemlich verwundert um. Zu Elisabeth. Von ihr hatten wir das ehrlichgesagt am allerwenigsten erwartet. Sie müssen wissen: Elisabeth ist 38, vor zwei Jahren hatten die Ärzte einen Tumor in ihrem Kopf entdeckt. Er war mit dem Stammhirn verwachsen und eigentlich gaben ihr die Ärzte damals kaum Überlebenschancen. Es hatte lange gedauert, bis Elisabeth überhaupt einen Arzt finden konnte, der bereit war, den Tumor zu entfernen. Der diese riskante Operation überhaupt durchführen wollte. Dass sie heute noch lebt, ist ein Wunder. Gottes Wunder. „Aber warum Du, Elisabeth“, fragte ich. „Wolltest Du damals denn nicht weiterleben?“ „Doch“, meinte sie. „Natürlich. Aber weißt Du noch, als mir der Arzt damals vor der OP geraten hat, ich soll mein Testament machen und meine letzten Angelegenheiten regeln? Da war der Tod so unglaublich nah. Da hab ich ihm wirklich ins Auge geschaut. Und ich war gezwungen, mich zu fragen, was dieser Tod für mich bedeutet. Was wäre, wenn ich aus der Narkose nicht mehr aufwache? Habe ich dann verloren? Was würde auf meiner Parte stehen? Sie hat tapfer gekämpft und trotzdem verloren? 1 zu 0 für den Tod? Das hat sich für mich nicht richtig angefühlt. Mein Leben ist doch keine verlorene Schlacht, nur weil ich irgendwann am Ende doch sterbe. Dann wäre doch jedes Leben von vornherein zum Scheitern verurteilt. Versteht ihr was ich meine?“ Elisabeth schaute in die Runde, aber wir blickten alle etwas betreten drein. Auch wenn natürlich jedem von uns klar war, dass wir irgendwann einmal sterben werden, war uns der Gedanke an den Tod unangenehm. Wir hatten den Tod einfach noch nie so nah erlebt, wie Elisabeth. Und irgendwie waren wir der Meinung, je weniger wir über den Tod nachdachten, desto weniger würde er uns unser Leben verderben. Und während wir noch so nachdachten, meinte Elisabeth: „Als ich also damals in den OP geschoben wurde, da hatte ich mit dem Tod meinen Frieden geschlossen. Ich wusste, egal ob so oder so – ob Leben oder Tod, es wird gut sein. Ich hatte mein Leben Christus anvertraut. So wie Paulus sagt: Christus ist mein Leben. Ich habe es ganz deutlich gespürt, dass er mich nicht loslässt. Nicht in Gesundheit und nicht in Krankheit und auch nicht im Tod. Da ist nichts, wovor ich fürchten muss. Da ist der Tod nichts anderes, als ein neuer Weg – ein neuer Weg mit Gott. Weil wir alle schwiegen, redete Elisabeth weiter: Seitdem ich mit dem Tod Frieden geschlossen habe, habe ich irgendwie auch mit dem Leben meinen Frieden geschlossen. Insofern war der Tod für mich wirklich ein Gewinn! „Wie meinst Du das“, fragte ich. Naja: Früher habe ich mich so ans Leben geklammert. Ich hatte solche Verlustängste und gleichzeitig immer das Gefühl, etwas zu verpassen. Heute weiß ich viel klarer als früher, was wirklich wichtig ist im Leben. Was wirklich zählt. Viel zu viel Zeit meines Lebens habe ich vertan, mit Furcht, mit Sorgen, mit Bedenken, mit Ärger über Dinge, die ich doch nicht ändern konnte. Alles Dinge, die im Angesicht des Todes ihre Wichtigkeit verlieren. Heute halte ich mich mehr an diesen berühmten Satz des US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr. Ihr kennt ihn bestimmt: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. In diesem Sinne, meinte Elisabeth, versuche ich, mein Leben auszurichten. Ich versuche es, vom Tod her zu denken und mit dieser Vorstellung fühlt sich wirklich gut und leicht an. Liebe Gemeinde: „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“. Dass dieser Satz auch in unseren Herzen Wurzeln schlagen kann. Das wünsche ich uns allen, in der Passionszeit und an jedem weiteren Tag im Jahr. Amen
  • FÜRCHTE DICH NICHT
    Tauf- und Gemeindepredigt Jes 41,10 18. Sonntag nach Trinitatis Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt . Amen Fürchte dich nicht, ich bin mir dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit“ Jes 41,10 Mit diesem Taufspruch haben wir gerade Jana auf den Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft. Damit ist Jana in die christliche Gemeinde aufgenommen worden. Sie ist ein weiteres Glied in der langen Geschichte unserer Kirche. Einer Kirche, zu der auch ihre Vorgeschichte untrennbar dazu gehört. Janas Tauf-Spruch stammt ja aus dem Alten Testament, aus dem zweiten Teil des Jesajabuches - von einem unbekannten Verfasser, den man bis heute in Ermangelung seines richtigen Namens den zweiten Jesaja nennt. Verfasst wurde der Text im 6. Jahrhundert vor Christus. Es war eine harte Zeit für das Volk Israel. Das jüdische Volk war in alle Winde zerstreut. Die heilige Stadt Jerusalem war von den Babyloniern dem Erdboden gleichgemacht worden. Alles Schöne, Ländereien, Häuser - waren zerstört. Der heilige Tempel lag in Schutt und Asche. Adel, Großgrundbesitzer und Facharbeiter waren von den Babyloniern verschleppt worden und es schien keine Aussicht zu bestehen, dass sie ihre Heimat jemals wiedersehen. Tatsächlich sollte es bis zu ihrer Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft noch etliche Jahre dauern. Es war eine trostlose, eine beängstigende Zeit. Und in diese Zeit hinein verkündete der zweite Jesaja im Namen des Herrn: Fürchte dich nicht, ich bin mit dir! Verstecke Dich nicht, denn ich bin dein Gott! Ich fasse deine Hand! Ich helfe Dir! Ich kann mir vorstellen, dass es dem Volk Israel damals erst einmal schwer gefallen ist, diese Worte zu glauben. Gott zu vertrauen, in einer Situation, in der sie von Kathastrophen geradezu heimgesucht worden waren. Von Hilfe weit und breit keine Spur. Und doch hat Gott dem Volk Israel damals in diesen Worten die Hand gereicht. Und sie haben sie ergriffen. Und sie sind damit gut gefahren. Es ging wieder aufwärts. Ja, die Menschen haben diese Zusage ernstgenommen und das hat etwas mit ihnen gemacht. Und auch wir, heute, sollen und dürfen dieses „Fürchte dich nicht“ ernst nehmen. Es galt nicht nur damals. Und es gilt nicht nur für Jana! Jede einzelne von uns darf sich an dieser Zusage festhalten. Auch Ihr, als Eltern – braucht diese Zusage! Elternsein, das wisst ihr, das bedeutet - natürlich auch – aber eben nicht nur unbändiges Glück. Ab dem Moment, in dem wir einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen halten, sind da neben aller Hoffnung und Freude auch Ängste und Zweifel und Sorgen. Wird alles gut gehen? Wird das Kind gesund sein? Wird es seinen Platz und seinen Weg im Leben finden? Werden wir unserer Aufgabe als Eltern gerecht? Wie werden sich unser Leben und unsere Familie verändern? Und dann ist da diese große Liebe. Dieses Phänomen, dass wir diejenigen, die wir lieben, egal ob groß oder klein – am liebsten beschützen und ihnen alles Leid der Welt ersparen würden. Ich selbst ertappe mich immer wieder dabei, wie ich meinen Mädchen beim Schlafen zusehe und mir denke: Euch darf nie etwas Schlimmes passieren! Ihr sollt nie tieftraurig, nie mutterseelen allein und nie todkrank sein. Am liebsten würden ich ihnen das Glück, das sie verdient haben, für immer garantieren. Aber das kann ich nicht. Niemand von uns kann das. Welche Hürden und Stolpersteine auf unsere Liebsten warten – das wissen wir nicht. Welche tiefen Täler uns selbst erwarten – wir wissen es nicht. Und egal wie viele Gedanken wir uns auch machen. Wie viele Wünsche und Hoffnungen wir auch haben, das Leben liegt nicht nur in unserer Hand. Weder unser Leben, noch das unserer Liebsten. Aber – und das ist dieses Wunderschöne an unserem Glauben: Wir dürfen glauben, dass es einen gibt, der seine schützende Hand über unser Leben hält. Der uns an der Hand nimmt, wie ein Vater sein Kind, wenn sie über eine vielbefahrene Straße gehen. Einer der uns sagt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der deine rechte Hand fasst “ Das Wort, das da im Hebräischen für „fassen“ steht, meint einen festen Griff, der nicht loslässt. Keinen laschen Händedruck. Gott ergreift mit seiner Rechten die Rechte des Menschen. Wir können uns auf das verlassen, was Gott da quasi per Handschlag verspricht. Wir können vertrauen, wenn er sagt: Fürchte dich nicht! Ich helfe Dir. Ja, liebe Gemeinde: Fürchte dich nicht – ich helfe Dir! Das klingt fast zu kitschig um wahr zu sein. Aber Gott scheint diese Botschaft sehr wichtig zu sein. Es heißt, dass dieser Aufruf – fürchte dich nicht - genau 365 mal in der Bibel vorkommt. Ich habe es nicht nachgezählt. Aber ich finde die Vorstellung sehr tröstlich. Ein „Fürchte Dich nicht“ für jeden Tag des Jahres. Für jeden von uns. „Fürchte dich nicht“, das sage ich mir selbst immer wieder, wenn ich vor Menschen trete und öffentlich sprechen soll – und das kommt in meinem Beruf öfters vor... „Fürchte dich nicht“- an dieser Zusage halte ich mich fest, wenn ich meine neunjährige Tochter, eine leidenschaftliche Reiterin, auf einem Pferd galoppieren sehe. Wenn ich sie vor meinem inneren Auge schon Fallen sehe und am liebsten hinrennen und sie herunterziehen würde. Fürchte dich nicht, dieser Zuspruch hat mich aufgerichtet, als wir unsere kleine Tochter Elsa im vorigen Jahr zum dritten Mal den Ärzten an der OP-Schleuse in die Arme legen mussten und zusehen mussten, wie sie zu ihrer Herzoperation fortgetragen wurde. Wir alle kennen solche Situationen. Situationen, in denen wir die Kontrolle abgeben müssen. In denen wir loslassen müssen. Momente, die uns alles abverlangen und vor denen wir uns wie wahnsinnig fürchten. Wenn nun Gott sagt: Fürchte dich nicht, dann meint das nicht: „Du darfst dich nicht fürchten - Reiß dich gefälligst zusammen.“ Es heißt auch nicht, dass es diese Momente, in denen uns die Furcht aufzufressen droht, nicht mehr geben wird. Dass uns in unserem Leben nichts Schlimmes mehr passieren wird. Nein. In dieser Welt werden Katastrophen nicht abgewendet und Krankheiten nicht ausgemärzt – das gilt es auszuhalten. Aber: Gott verspricht uns – ebenfalls bei Jesaja im 43. Kapitel: Wenn du durch das Wasser gehst, wenn dir das Wasser bis zum Hals steht – dann will ich bei dir sein, dass die Ströme dich nicht ersäufen. Wenn du ins Feuer gehst, wenn du durch die Hölle gehst, dann sollst du nicht verbrennen und die Flamme soll dich nicht versengen. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Ich kenne Dich. Ich bin dir nah, auch wenn du mich nicht siehst und ich lasse dich nicht los, was auch geschieht. Liebe Gemeinde, dieser Spruch: Fürchte Dich nicht. Ich helfe dir! Drückt für mich die Quintessenz des Glaubens aus: Er sagt uns, dass es einen Gott gibt, der uns wohlgesonnen ist. Der uns liebt, so wie wir sind. Er begleitet uns und lässt uns nicht los, selbst wenn wir meinen, er hätte seine Hand längst abgezogen. Er wird unsere Hand halten bis zum letzten Schritt auf dieser und beim ersten Schritt in die neuen Welt. Diesen Glauben, dieses Vertrauen unseren Kindern, also auch Jana, zu vermitteln – das, liebe Gemeinde, das ist christliche Erziehung. Eine berechtigte Frage wäre an dieser Stelle: Wie macht man das? Wie vermittelt man Glauben? Kann man Glauben und Vertrauen lernen? Jesus selbst gibt darauf eine Antwort. Im Taufevangelium, das wir vorhin gelesen haben, da sagt Jesus: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Diese Aussage richtet sich an Erwachsene. An Euch Eltern, die heute ihr Kind zur Taufe gebracht haben, aber genau so an uns andere. Werdet wie Kinder! Natürlich wollte Jesus damit nicht sagen, dass wir tatsächlich wieder Kind werden sollten. Kindlich oder naiv. Dass wir all unsere Einsichten, Erkenntnisse und Erfahrungen, unseren Willen und unsere Tatkraft über Bord werfen sollten. Nein – das meinte Jesus nicht. Gerade mit all unseren körperlichen und geistigen Kräften, mit unserer Selbstständigkeit als mündige Bürger, mit unseren Erfahrungen, auch den negativen, und mit unserer Willenskraft sollen und können wir uns letztlich genauso schlicht und unbedingt der Führung und der Liebe Gottes anvertrauen, wie ein kleines Kind das gegenüber seinen Eltern tut. Denn, was wir von Kindern lernen können, das ist doch ihr ganz selbstverständlicher Umgang mit dem Empfangen. Auch mit dem Empfangen von Liebe und Zuwendung. Während wir Erwachsenen gelernt haben, dass nichts auf der Welt umsonst ist und dass jede Gabe eine Gegengabe erwartet, können kleine Kinder ganz selbstverständlich annehmen. Sie kalkulieren nicht. Sie fragen sich nicht, was sie tun müssen, um dieses und jenes zu bekommen. Genausowenig fragen sie sich, wie sie das Empfangene verdient haben, wie sie es jemals vergelten, jemals zurückzahlen können. Es ist ganz klar, dass sie nichts zu bieten haben, als sie selbst zu sein. Als sich zufrieden an die Brust ihrer Eltern zu werfen. Ganz ohne Kraftakt. Und dafür lieben wir sie. Und genauso selbstverständlich, genau wie die Kinder, sollen wir Erwachsene das Reich Gottes, also Gottes Liebe und Begleitung annehmen. So wird uns jene Kraft erwachsen, die wir brauchen, um uns tatsächlich nicht zu fürchten. Wie bringt man das jemandem bei? Wie kann man das einem Kind erklären? Ich denke, jedenfalls nicht nur durch Belehrung. Die Belehrung ist zwar auch nötig, denn ein stummes Beispiel, das die Quelle verschweigt, aus der es sich speist, kann leicht unverstanden bleiben. Aber die Hauptsache bleibt doch das Vorleben. Dass wir mit unseren Kindern oder denen, die uns anvertraut sind, aus der Kraft Gottes leben. Dass wir sie an die Hand nehmen, so wie Gott uns alle an die Hand nimmt, mit festem Griff und dem göttlichen Versprechen: Du brauchst Dich nicht zu fürchten, ich helfe dir. Liebe Gemeinde: Gott fasst uns alle bei der rechten Hand. Ohne Ausnahme. Lassen wir seine Hand nicht fahren, sondern greifen wir zu. Denn nur dann kann aus unserem Leben etwas Gutes werden. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus Amen (inspiriert von Prof. Dr. Dietz Lange)
  • WARTEN UND ERWARTUNGEN - und dann verspätet sich der Bräutigam
    Frauengottesdienst "Zugehen auf den Advent" gehalten am 29.11.2019 Liebe Schwestern, Mit welchen Gedanken und Gefühlen sind Sie heute wohl hier ? Vielleicht freuen Sie sich auf diese Wochen vor Weihnachten. Mit all dem Zauber und den kleinen und großen Geheimnissen. Dem Duft von Keksen und Glühwein. Vielleicht sind Sie aber auch mit einem Klos im Magen hier: Denken an die Weihnachtspost, die zu erledigen ist, ans Geschenke besorgen, Fest vorbereiten, Festessen kochen und dazwischen der normale Alltagswahnsinn – wie soll ich das alles schaffen? Andere mögen in Gedanken die strahlenden Augen der Kinder oder Enkel vor sich sehen, die ungeduldig die Tage zählen und es nicht abwarten können, bis das Christkind kommt. Und wieder andere wollen von allem dem womöglich gar nichts wissen. Denken: Mein leben ist leer und dunkel geworden. Ich bin einsam und muss anderen in ihrere heilen Weihnachtsidylle zusehen. Ich weiß gar nicht, wie ich die Zeit bis zum neuen Jahr rumkriegen soll. Ja, liebe Schwestern – all das darf sein. Zauber, Stress, Freude, Bangen, Fragen - So vielfältig kann der Advent sein. Jede erlebt den Advent anders. Und so erlebt auch jede das Warten, um das es im Advent ja geht, anders. Wir warten auf die Ankunft , auf die Wiederkunft des Herrn. Jakobus beschreibt dieses Warten in seinem Brief, aus dem wir vorhin gehört haben, als ein geduldiges, demütiges, ja fast schon selbstaufopfernden Warten. Allerdings muss man dazu sagen, dass Jakobus das in einer Zeit schrieb, in der man damit rechnete, dass die Wiederkunft des Herrn unmittelbar bevorstünde. 2000 Jahre später wird in dem Text, den wir ebenfalls gehört haben, eine ganz andere Art von Warten beschrieben. Da geht es ums Innehalten und Zurruhe kommen, in einer Zeit, die alles andere als ruhig ist. Da geht es um das Besinnen und das achtsame Hinschaun, in einer Zeit, die üblicherweise von Hektik geprägt ist. Da geht es um ein Sichbewusstmachen und achtsam mit sich selbst umgehen. Ja, der Autor lädt uns ein, uns offen und neugierig auf jeden neuen Tag zuzugehen und am Ende das Ergebnis festzuhalten, anstatt von vornherein alles durchzuplanen, einzutackten und festzulegen. Ich wurde gebeten, heute zum Gleichnis der zehn Brautjungfern zu predigen denn auch hier geht es ja ums Warten. Es geht um Erwartungen, um vorgefertigte Bilder, von denen man sich verabschieden muss. Aber hören Sie selbst: Mt 25, 1-13 Dann wird die gerechte Welt Gottes zu vergleichen sein mit zehn jungen Frauen, die ihre Fackeln nahmen und sich aufmachten, dem Bräutigam entgegenzugehen. Fünf von ihnen waren gedankenlos und fünf klug: Die sich keine Gedanken machten, nahmen ihre Fackeln mit, aber kein Öl. Die Klugen nahmen zu ihren Fackeln auch Krüge voll Öl mit. Als nun der Bräutigam auf sich warten ließ, wurden sie alle müde und schliefen ein. Um Mitternacht dann lautes Rufen: „Da! Der Bräutigam! Macht euch auf, geht ihm entgegen!“ Da wachten die jungen Frauen alle auf und machten ihre Fackeln zurecht. Die Gedankenlosen sagten zu den Klugen: „Gebt uns von eurem Öl, sonst verlöschen unsere Fackeln!“„Auf keinen Fall,“ antworteten die Klugen, „für uns und euch reicht es nicht. Geht doch zu den Händlern und kauft euer eigenes.“ Während sie noch unterwegs waren um einzukaufen, kam der Bräutigam. Die vorbereitet waren, gingen mit ihm zum Hochzeitsfest hinein. Die Tür wurde verschlossen. Später kamen auch die übrigen jungen Frauen und riefen: „Herr, Herr, mach uns auf!“ Er antwortete aber: „Im Ernst, das sage ich euch: Ich kenne euch nicht.“ Also bleibt wach! Denn ihr kennt weder den Tag noch die Stunde Liebe Schwestern, dieses Gleichnis ist grundsätzlich eines, mit dem ich so meine Mühe habe. Das fängt schon bei den Frauen an, die nicht teilen wollen und trotzdem belohnt werden. Das passt so gar nicht in unsere christliche Lebenshaltung, in der es heißt: Bittet, so wird euch gegeben. Ich tue mir auch schwer mit dem Bild einer verschlossenen Tür, die für alle jene unpassierbar bleibt, die nicht gut genug vorbereitet waren. Mit der Selektion zwischen Klugen und Dummen. Denn ich bin zutiefst überzeugt davon, dass Gott mit unendlicher Liebe und Sehnsucht auf uns wartet und uns empfangen wird, wann immer wir kommen und egal, über welchen Weg und egal wie lange wir brauchen. Ich finde auch, dass wir das Bild der törichten Mädchen korrigieren müssen. In meinen Augen war es nicht Torheit, die sie zu wenig vorsorgen ließ. Kann es nicht vielmehr sein, dass sie einfach etwas anderes erwarteten? Dass sie schlicht und einfach damit rechneten, dass der Bräutigam zu seiner Hochzeit pünktlich erscheinen würde- und das ja nicht zu unrecht. Sie erwarteten, dass sich der Mann ausgerechnet an seinem Hochzeitstag einmal NICHT verspäten würde. Dass er seine wartende Braut pünktlich in die Arme nehmen würde. Sie hatten ein festes Bild davon im Kopf, wie so ein Bräutigam zu sein hat. Wie er sich zu verhalten habe – weil es sich gehört. Aber – das wissen Sie so gut wie ich: Das Leben lässt sich so oft nicht berechnen. Nicht Männer, nicht Menschen, nicht Schicksale, nicht einmal große Feste, wie eine Hochzeit oder Weihnachten. Darauf waren die fünf Frauen nicht eingestellt, sie hatten sich ein festes Bild gemacht und daher keine Reserven, keine Ölreserven und vermutlich auch keine mentalen Ressourcen, um auf die neue Situation flexibel einzugehen. Schmerzhaft mussten sich die kalkulierenden Mädchen von ihren falschen Bildern verabschieden. Die anderen fünf hingegen sind von vorne herein offen für das, was an dem Abend geschehen mag. Ihr Glück, ihr Geschick ist nicht von der Pünktlichkeit eines Mannes abhängig. Sie sorgen für sich selbst, dass ihr Licht nicht erlischt. Auch das finde ich einen schönen Gedanken. Denn nur wer für sich selbst gut sorgt, der kann auch anderen etwas geben. Dass die fünf Klugen den anderen nichts von ihrem Öl abgeben, hat daher wohl weniger mit Geiz zu tun, sondern eher damit, dass es nichts nützen würde von ihrem Öl abzugeben. Eine Haltung, eine Einstellung kann man nicht einfach an andere weitergeben. Die anderen wollen das Öl, aber nicht die Einstellung übernehmen. Das reicht aber nicht. Liebe Schwestern, fragen wir uns: Was reicht? Was brauchen WIR an diesen Adventstagen, damit unser Licht nicht erlischt? Wie ist das mit unseren Erwartungen? Haben wir Erwartungen oder sind wir in Erwartung? Habe ich selbst ein Bild davon im Kopf, was in dieser Adventszeit, was an Weihnachten geschehen muss oder bin ich offen dafür, wie sich Advent und Weihnachten in mir ereignen? Feste Vorstellungen werden ziemlich sicher enttäuscht. Erwartend sind wir hingegen offen für das, was Gott mit uns vorhat. Und wenn wir dieser Tage ab und an eine Kerze anzünden, dann erinnern wir uns an das Licht, das in uns brennt, das es zu hüten und zu nähren gilt. Und geben unserer Sehnsucht Raum nach unserem Gott, der mit uns ist, wann immer wir das tun. AMEN
  • ZEIT HEILT KEINE WUNDEN
    Predigt zum Ewigkeitssonntag 2019 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Jahrzehnte waren die beiden unzertrennlich. Ein Liebespaar, wie man es selten findet. Sie gab es nicht ohne ihn und ihn nicht ohne sie. Durch Höhen und Tiefen sind sie gemeinsam gegangen und alle Schicksalsschläge haben sie nur noch stärker zusammengeschweisst. So viel hatten sie schon zusammen gemeistert. Jetzt freuten sie sich auf das, was vor ihnen lag. Der Dachbodenausbau ihres kleinen Häuschens wäre das nächste Projekt gewesen. Nach der Routineoperation, die nötig geworden war. Doch plötzlich war alles anders. Ganz anders. Ein Anruf aus der Klinik. Die Welt stand still und nichts mehr war wie zuvor. Und als SIE mit vielen vielen anderen hilf- und fassungslos vor seinem Sarg stand, konnte sie noch nicht erahnen, wie sehr sich ihr Leben ändern würde. Das Zuhause, das vorher ein Ort der geborgenen Geselligkeit gewesen war, war einsam und kalt geworden. Ein Ort gähnender und schmerzender Leere. Eine leere Betthälfte, ein leeres Gegenüber am Tisch, leere Regale, eine leere Garderobe. Was blieb waren bittere Tränen. Liebe Gemeinde, viele von kennen so eine Situation. Wenn mit einem Mal alles anders ist und man sich im eigenen Heim, im eigenen Leben fremd fühlt. Viele von Ihnen haben in den letzten Wochen und Monaten Tränen vergossen. Haben geweint. Am Bett. Am Grab. Ganz im Verborgenen oder gemeinsam mit anderen. Still und leise oder laut und heftig. Tränen um einen Menschen, der nun fehlt. Tränen vor Erleichterung, weil das unerträgliche Leiden endlich vorbei ist. Tränen, weil es so furchtbar weh tut. Tränen der Verzweiflung: Wie soll es weiter gehen? Tränen um versäumte Momente, um das, was nicht war und was doch hätte sein können. Tränen, die nicht aufhören wollen zu fließen. Tränen vielleicht auch, die noch nicht nach draußen können. Ungeweinte Tränen. Hilft es da, wenn in der Bibel steht, alles habe nun mal seine Zeit. Tränen der Trauer genau so wie Tränen der Freude hätten ihre Stunde? Hören Sie selbst den Predigttext . Er steht im Buch Kohelet im 3. Kapitel (Verse 1-10) Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mich tröstet es ein wenig, dass es immer schon so war, wie es ist. Dass alles seine Zeit hat und alles vergänglich ist. Dass es Zeiten der Trauer und Zeiten des Glücks gibt. Zeiten der Verzweiflung und Kränkung und der grenzenlosen Liebe. Dass es Dunkles gibt und Helles – all das gehört zu einem jeden Menschenleben dazu, und das eine wäre ohne das andere nichts wert. Es gibt mir ein wenig das Gefühl von Geborgenheit, mich eingebettet zu wissen in eine große Gemeinschaft von Menschen, die all das, das Schöne aber eben auch das Schlimme - das Leiden, den Kummer und vor allem das Sterben, vor mir durchlebten - jetzt gerade durchleben und nach mir durchleben werden. Wir alle, Sie, ich, alle, die wir hier sitzen, werden sterben. Und die, die wir begraben mussten, sind uns nur vorausgegangen. So leben wir in einer großen Schicksalsgemeinschaft. Geteiltes Leid also. Und trotzdem fühlt es sich meistens nicht wie halbes Leid an. Trotzdem ist der Schmerz, den wir angesichts eines schlimmen Verlustes empfinden, oft unermesslich. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Ich glaube das nicht. Aber vielleicht muss sie das auch nicht. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer meinte: „Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann und man soll das auch gar nicht versuchen; man muss es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft – wenn auch unter Schmerzen – zu bewahren. Ferner: je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.“ Ja, liebe Gemeinde, vielleicht kann das Trost sein: Die Trauer verändert sich. Und all das, was uns zu Lebzeiten verbunden hat, das tragen wir in uns fort. Das bewegen wir in unseren Herzen – wie es in der Bibel heißt. Das verändert uns, begleitet uns und lässt uns wachsen, bis zu jenem Tag, an dem auch unsere Zeit gekommen sein wird. Bis auch wir an jene Grenze stoßen, die wir Tod nennen. Eine Grenze, die wir so schwer begreifen können. Eine Grenze, hinter die wir nicht blicken können. Und die uns daher oft Angst macht. Liebe Gemeinde, größer als jede Angst, ist aber die Hoffnung. Gott selbst hat uns die Fähigkeit geschenkt, eine Ewigkeit zu denken. Mehr zu denken, als das, was vor unseren Augen steht. Diese Fähigkeit macht, dass wir glauben, dass wir hoffen können. Unser Predigttext beschreibt das mit den Worten: Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Auch wenn wir es nicht ergründen können, können wir doch hoffen, glauben und vertrauen. Auf ein Leben, das anders ist, das ewig ist. Ich persönlich glaube an dieses Leben. Ich glaube, dass ich nach meinem Tod mit offenen Armen begrüßt werde. Von Christus, der für uns alle in den Tod gegangen ist und diesen Tod für uns alle überwunden hat. Der in den Tod gegangen ist, um uns im Tod zu empfangen und uns ins Leben zu führen! Ja, liebe Gemeinde: Die Vergänglichkeit wird vergehen. Sie ist wie alles Vergängliche endlich. Aber Gottes Ewigkeit wird bleiben. Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen, verspricht uns Jesus. Und weiter: Siehe ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende… Und Paulus schreibt: Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm HERRN. Liebe Gemeinde, diese Worte dürfen uns Mut machen: Denn es ist Gottes großer Wunsch, dass wir uns im Sterben aber eben auch im Leben, in UNSEREM eigenen Leben - in dem es immer Veränderungen und Abschiede geben wird, gehalten und geborgen wissen dürfen. Auch in unseren vier Wänden, die uns vielleicht durch den Verlust eines lieben Menschen fremd geworden sind. Auch wenn es uns so vorkommt. Die Räume sind nicht leer. Nie. Denn Gott ist da – er hält unsere Hand, auch wenn wir ihn nicht sehen. Er begleitet uns. Ewiglich. Wenn wir darauf vertrauen, wenn wir uns einlassen, aufs Leben, dann kann es sogar passieren, dass wir irgendwann wieder gerne zu Hause sind. Anders als bisher. Vielleicht manchmal nur für einen kurzen Moment. Wenn man sich gerne wieder ins Wohnzimmer setzt und die Musik hört, die einen berührt. Wenn man wieder gerne in den Garten geht. Wenn man wieder jemanden einlädt. Oder wenn man sich wieder Gedanken um die Nachbarn macht und nicht mehr nur um sich selbst kreist. Wenn man es schafft, die so oft gesehenen Kleidungsstücke und Utensilien des geliebten Menschen wegzuräumen und Platz für Neues zu schaffen, ohne dass man dabei zusammenbricht. Ohne, dass die Wunde wieder völlig von neuem aufreißt. Wenn man es schafft, die gemeinsame Geschichte dankbar in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen. Wie auch immer wir uns in unseren eigenen vier Wänden gerade vorkommen, wir alle dürfen mit der Zuversicht nach Hause gehen, dass wir niemals alleine, sondern von dem gehalten sind, dessen Worte bleiben, auch wenn wir keine Worte finden für das, was wir gerade mitmachen müssen. Und die Fülle Gottes, die umfassender und höher und weiter ist als alle menschliche Leere, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
  • VOM ABWERTEN
    Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns allen – Amen Es war einmal eine junge Künstlerin, die war die begabteste Schülerin auf der Kunsthochschule. Zum Ende ihrer Ausbildung sagte ihr Lehrer: Male ein Bild, ein Meisterwerk, dein bisher bestes – bringe es auf den Marktplatz und hänge es dort so auf, dass alle es sehen können. Und daneben hänge ein Schild mit der Bitte, dass alle, die einen Fehler auf dem Bild bemerken ein Kreuz an die Stelle setzen sollen. Dann warte drei Tage bevor Du das Bild abholst. Gesagt getan. Nach drei Tagen voller Anspannung ging die Studentin zum Marktplatz. Doch das Herz wurde ihr schwer. Schon von weitem konnte sie sehen, dass das Bild über und über mit Kreuzen bedeckt war. Nun würde sie sicher ein „Nicht genügend“ bekommen. Betrübt ging sie zur Schule und zeigte dem Lehrer das Bild. Der bat sie nur, ein weiteres zu malen. Wenn möglich ein noch besseres. Die Studentin arbeitet noch härter, Tag und Nacht. Dann hängte sie auch diese Bild auf dem Marktplatz aus. Aber diesmal sollte sie ein anderes Mitteilungsschild daneben stellen. Diesmal sollten die Zuschauer die Chance bekommen, Fehler, die sie entdeckt hatten, selbst zu korrigieren. Mit Hilfe von Pinsel und Farbe, die daneben standen. Und was glauben Sie? Als die Studentin drei Tage später zu ihrem Bild zurückkehrte, war nichts verändert. Niemand hatte auch nur einen einzigen Fehler finden können. „Nun hast du die letzte Lektion gelernt, die du lernen musstest“, sagte der Lehrer mit einem Lächeln. Und die Lehre ist folgende: Immer wird es Menschen geben, die deine Werke, deine Arbeit, dein Tun und Sein beurteilen. Das erste Bild war voll mit Kreuzen, weil viele gern ein Wörtchen mitreden wollen, wenn sie die Möglichkeit bekommen. Auch wenn sie keine Ahnung von der Materie haben. Dein zweites Bild war völlig ohne Kreuze, nachdem in diesem Fall auch das Können und der tatkräftige Input des Betrachtenden gefragt waren. Darum: Wenn du deine Seele, deine Begabung und dein Herz in ein Werk hineingelegt hast, so fälle dein eigenes Urteil. Du gibst dem Werk seinen Wert. Das können alle Betrachter der Welt dir nicht wegnehmen. Und vergiss nicht: Dasselbe gilt auch, wenn du das Werk eines anderen beurteilen sollst.“ Ja liebe Gemeinde, so viele Menschen – und ich nehme ich selbst da gar nicht aus – so viele wollen gerne mitreden. Nicht nur in der Kunst, sondern bei allem möglichen. Wir sind oft sehr vorschnell mit unserer Meinung und unserem Urteil über andere. Über deren Verhalten, deren Arbeit, deren Lebensentwürfe. Es gibt immer jemanden, der es besser weiß und der das ungefragt zum Besten geben muss. Ich selbst habe das früher oft erlebt, als die Kinder noch etwas kleiner waren. Da passierte es nicht selten, dass ich von Wildfremden angesprochen wurde - auf der Straße oder in der U-Bahn – die sich auf einmal bemüßigt fühlen, meine Erziehung zu bewerten. Wenn meine Kleine zum Beispiel theatralisch schluchzend auf den Boden getrommelt hat, weil sie keine dritte Kugel Eis bekommen hat, oder ich in der Früh einfach mal wieder keinen Nerv mehr hatte, der großen Tochter die dünnen Ballerinas auszureden, auf die sie trotz Schnee und Eos bestanden hat – wenn eben mal wieder alles alltagschaotisch war - dann kamen gerne Kommentare wie: „Früher hätte es so was nicht gegeben. Da hatten die Eltern die Kinder noch im Griff. Oder: Ein bisschen Strenge hat noch niemandem geschadet.“ Oder wenn mir dann doch mal der Kragen geplatzt ist und ich ein Machtwort gesprochen habe, dann hat sich sicher einer gefunden, der sagt: „Sie wissen aber schon, dass man mit Kindern nicht schimpfen darf - Sie Rabenmutter.“ Ja, liebe Gemeinde. So ist das mit dem Kommentieren. Mit dem Bewerten und Abwerten. Fehler sind schnell gefunden. Im Beruf genauso wie im Privatleben. Im Ehrenamt genauso wie bei Hauptamtlichen. Ein Urteil ist schnell gefällt. Ein Wort schnell ausgesprochen – manchmal auch hinterrücks - und beim anderen bleibt ein schales Gefühl zurück. Ein Gefühl von Unsicherheit. Das Gefühl, nicht gesehen und schon gar nicht verstanden zu werden. Schon der Apostel Paulus kannte diesen Reflex von Bewertung und Abwertung. Daher bezog er in einem seiner Briefe Stellung dazu. Ich lese aus 1. Korinther 12, 4-11 Es sind verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; Aber es ist ein Gott. Und es sind verschiedene Kräfte; Aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller Dem einen wird durch den Geist ein Wort der Weisheit gegeben, dem anderen ein Wort der Erkenntnis durch den gleichen Geist. Einem anderen Glaube, in demselben Geist. Einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist. Einem andern die Kraft, Wunder zu tun. Einem andern prophetischer Weitblick. Einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden, Einem andern mancherlei geistreiches Wort. Einem andern die Gabe, es auszulegen. Das alles aber wirkt derselbe eine Geist und teilt einem jeden das Seine zu, wie er will. Gott segne Reden und Hören Liebe Gemeinde, schon die Korinther hatten das Problem, dass es immer einen gab, der es besser wusste. Der meinte, er allein hätte den Weg der Weisheit für sich gepachtet oder sie sei den anderen überlegen – auf Grund ihrer Begabungen. Und Paulus entgegnet den Korinthern in seiner unnachahmlich stoischen Art: Liebe Menschen, es gibt verschiedene Gnadengaben, verschiedene Fähigkeiten und verschiedene Talente – aber es ist EIN Geist, EIN Herr, EIN Gott, der dahintersteht. Keine Leistung, keine Herangehensweise ist besser oder schlechter als die andere. Sie ist eben einfach nur anders. Ihren Wert erhalten all diese unterschiedlichen Gaben, Aufgaben und Fähigkeiten durch Gottes Geist, der in ihnen wirkt. Wenn also einer versucht, den anderen abzuwerten, dann wertet er den Geist Gottes ab. Liebe Gemeinde, was für die Korinther damals galt, gilt für uns heute genauso. Auch uns hat Gott mit unterschiedlichen Funktionen betraut. Und er hat uns mit ganz unterschiedlichen Talenten und Begabungen ausgestattet. Was für Paulus aber auch wichtig war, wozu er die Korinther auffordert, ist, diese unterschiedlichen Fähigkeiten auch zu erkennen und anzuerkennen. Sie wahrzunehmen und ihnen in der Gemeinde bestmöglich Raum zu geben, damit sie sich entfalten können. Klar ist, dass es dabei immer Regeln braucht. Dass sich nicht einzelne auf Kosten anderer selbstverwirklichen können und dass die Grenzen der jeweils anderen behutsam wahrgenommen und respektiert werden müssen. Die Frage, die hinter jedem Einsatz der Geistgaben steht, muss lauten: Wem dient es. Dient es nur mir selbst und meiner Vision und Vorstellung davon, wie Kirche zu sein hat? Stelle ich mich damit wieder über andere? Oder dient es der Gemeinschaft? Dem Gesamtwohl. Wenn das berücksichtigt wird, liebe Gemeinde, dann ist da ungeheuer viel Potenzial, das uns Gott hier in dieser Gemeinde geschenkt hat. In den Monaten, in denen ich nun schon hier bin, habe ich unter Ihnen so viele phantastische Begabungen entdecken können. Da sind Menschen, die für andere da sind, die unheimlich einfühlsame, emphatische Zuhörer sind. Da sind Menschen, die freundlich auf Fremde zugehen, die die Gabe haben, andere willkommen zu heißen und zu integrieren. Da sind solche, die einen guten Draht zu Kindern oder Jugendlichen haben und ihnen die Welt der Kirche erschließen. Aber auch solche, die für die Senioren ein liebevolles Umfeld und Zuhause hier schaffen. Dann habe ich Menschen erlebt, die anpacken, die sofort sehen, wo etwas zu tun ist und nicht zögern, hinzugreifen. Menschen, die sich um Bedürftige kümmern und die unterstützen, die unsere Hilfe brauchen. Es gibt Menschen, die über ein tiefes Wissen von dieser Gemeinde verfügen, von denen wir neu Dazugekommenen lernen können und es gibt andere, die Neues wagen wollen, neue Wege gehen (wollen). Dann gibt es viele, die ganz wunderbar basteln und nähen können, solche, die backen und kochen können. Und die uns immer wieder ein gemütliches Zusammensein ermöglichen. Und natürlich jene, die wundervoll singen oder ein Instrument spielen. Es gibt unter ihnen Menschen, die gut führen und organisieren können. Und Menschen, die in der Öffentlichkeit sprechen können. Menschen, die sich gut mit Finanzen, mit Rechtsdingen, mit Geschichte oder Technik auskennen und solche, die man einfach braucht, weil sie alles möglich machen. Nicht unerwähnt bleiben dürfen jene, die standhaft, und möglichst jeden Sonntag in die Kirche zum Gottesdienst kommen. Auch das, liebe Gemeinde, auch das ist eine Leistung und eine Gabe, Gott einen festen Platz im Alltag zu reservieren und sich auf die Gemeinschaft mit anderen einzulassen. Sicherlich fallen Ihnen noch viele weitere Fähigkeiten ein, die Sie selbst oder andere haben und die wir in der Stadtkirche für ein lebendiges Miteinander so dringend brauchen. Ja, wir brauchen Sie – jede und jeden einzelnen von Ihnen. Denn eine Gemeinde kann und darf nie nur von einzelnen Personen abhängen. Sie lebt vom Einsatz vieler. Und für Ihren, für Euren Einsatz möchten wir, das Pfarrteam, Euch heute danken. – Auch beim anschließenden Essen. Wir wollen Euch danken, dass Ihr die Gaben, die Euch gegeben wurden, für diese tolle Gemeinde einsetzt. Und so ein Dankgottesdienst kann vielleicht auch für andere hier ein Anstoß sein, sich zu fragen: Wo liegen denn meine Begabungen? Wie will MICH der Heilige Geist in seinen Dienst nehmen? Und wie kann ich mich einbringen, dass die Stadtkirche eine so lebendige Gemeinde bleibt, wie sie es heute schon ist. Eine Gemeinde, die vielfältig ist und voller Möglichkeiten. Die offen ist, für jung und alt. Ein Ort, an dem sich Menschen willkommen und aufgehoben fühlen. Und an dem sich Menschen mit Respekt begegnen anstatt mit Abwertung und Fehlerkreuzen. Weil wir wissen, dass es ein Band gibt, das uns alle verbindet. Ja, liebe Gemeinde, wir alle, die wir hier sind, sind ja nicht nur eine Gruppe zufällig zusammengewürfelter Menschen. Es ist ja nicht so, dass wir nur zufällig sonntags nichts besseres vorhaben. Nein, liebe Gemeinde: Uns alle hier verbinden der Glaube und eine gemeinsame Vision. Uns verbindet die Vision von einem Reich, in dem Friede herrscht und Gleichwürdigkeit. Einem Reich, in dem weder Menschen noch andere Geschöpfe noch die Natur ausgebeutet werden. Es ist die Vision vom Reich Gottes. Die Kirche ist unterwegs zum Reich Gottes. Das hält uns zusammen. Das macht uns aus. Und dafür setzen wir unsere Gaben ein, jede und jeder auf seine Art und so gut wir das eben können. Auf dass das Reich Gottes heute schon aufscheint – mitten unter uns. Amen
  • DIE HOFFNUNG STIRBT NIE
    Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.  AMEN Hand aufs Herz, liebe Gemeinde: eigentlich geht es uns doch gut. Wir leben in einem der wohlhabendsten Länder der EU, in einer der lebenswertesten Städte der Welt, sind in einer der schönsten Gemeinden im Zentrum Wiens. Und auch wenn derzeit das Schreckensgespenst namens Coronavirus umgeht, wenn uns medial vermittelte Bilder von abgeriegelten Gebäuden, Straßen ja Städten vor Augen stehen, war doch insgesamt die Menschheit noch nie in ihrer Geschichte so gesund wie heute. Noch nie haben die Menschen so lange gelebt wie heute, waren so wohlhabend und kannten so viel von der Welt wie heute. Verglichen mit den Generationen vor uns, verglichen mit Menschen in anderen Ländern, geht es uns, die wir hier sitzen, unverdient gut. Und manchmal, wenn ich mir das so bewusst mache und an mein eigenes Leben denke, dann muss ich einfach sagen: Was für eine Gnade. Da könnte es uns doch eigentlich ganz leicht ums Herz werden. Da könnten wir leicht und beschwingt durchs Leben tanzen, so wie dieses kleine Mädchen, das Sie auf ihrem Sonntagsgruß sehen. Das Bild stammt vom Holländischen Illustrator Marius van Dokkum und heißt Dancing in the church. Dieses Kind hat ernstgenommen, was WIR eben gesungen haben. „nun freut euch, liebe Christengmein und lasst uns fröhlich springen.“ Es tanzt durch den Kirchenraum – sehr zur Überraschung der Gemeinde und des Pfarrers, der sich wohl in seiner Predigt gestört fühlt. Das Mädchen schwebt, als sei es getragen von dem Frieden mit Gott, den er ihm durch Jesus geschenkt hat. Das Lamm auf dem T-Shirt und die ausgebreiteten Arme weisen ja auf ihn hin! Auf den Mann am Kreuz, der gestorben ist, damit WIR wissen, wie viel wir Gott wert sind. Wie wertvoll wir sind. Wie erlöst wir sind. Wie gut es uns geht. Aber, liebe Gemeinde, auch wenn wir ja hier in einer Kirche sind und viele von uns zumindest eine Ahnung davon haben, wie sehr Gott uns liebt, muss man ehrlicherweise sagen, dass kaum jemand von uns regelmäßig durch die Kirche tanzt oder unentwegt vor sich hinlächelt. Im Gegenteil: Wie oft gehen wir mit hängenden Schultern durchs Leben. Fürchten uns vor allem möglichen. Fühlen uns bedroht, von dem, was da kommen könnte – und überfordert von den Sorgen des Alltags. Wie oft strahlen alles andere als Freude aus. Das hat schon der große Philosoph und Kritiker des Christentums Friedrich Nietzsche moniert, als er sagte: „Christen müssten erlöster aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.“ Tia liebe Gemeinde. Müssten wir alle erlöster aussehen? Fühlen wir uns erlöst? Und wie sehen erlöste Menschen eigentlich aus? Fröhlich, strahlend, ein bisschen „high“ und der Welt entrückt? Die Augen fest verschlossen vor all dem, was im hier und jetzt nicht in Ordnung ist? Sie können sich die Antwort denken: Wohl kaum. Auch erlöste Menschen sind keine blauäugigen Weltignoranten. Im Gegenteil: Wir Christinnen und Christen stehen mit offenem Herzen und offenen Augen vor dem Leid und dem Kummer dieser Welt. Auch dem Apostel Paulus waren Leid und Kummer und auch körperliche Schmerzen nicht fremd, als er im Jahr 55 nach Christus von Korinth aus an die Gemeinde in Rom schrieb. Unser heutiger Predigttext stammt aus dem Römerbrief, er steht im 5. Kapitel Verse 1-5 „Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus. 2 Durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird. 3 Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, 4 Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, 5 Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Herr, segne und regiere unser Reden und unser Hören durch deinen Geist. AMEN Liebe Gemeinde, als Paulus diese Zeilen schrieb, kannte er ihre Adressaten – die römische Gemeinde - noch gar nicht. Eigentlich hatte er schon lange vorgehabt, die Christen in Rom zu besuchen, aber immer war etwas dazwischengekommen. Daher ist sein Brief eine Art Vorgeschmack auf seinen Besuch. Ein Empfehlungsschreiben. Eine Zusammenfassung paulinischer Theologie. Beeindruckend ist doch schon der erste Satz. „Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“. Da sind wir mitten in der Rechtfertigungstheologie. Gott hat uns Glauben geschenkt. Dadurch sind wir gerecht. Dadurch sind wir im Reinen. Dadurch haben wir Frieden. Das sind richtig große Worte, die Paulus da nach Rom schreibt. Und manchmal wäre ich gern damals Mäuschen gewesen und hätte gerne gehört, wie diese Worte bei den Römern aufgenommen wurden. Vor allem, wenn man sich die Lebensrealität der römischen Gemeinde näher ansieht. Zur ihr gehörten Juden- und Heidenchristen gleichermaßen. Die meisten von ihnen waren keine römischen Reichsbürger sondern Freigelassene und Sklaven, also nicht gerade privilegierte Menschen. Es fanden schon damals die ersten Christenverfolgungen statt. Viele Menschen verschwanden in den Verliesen der Staatsgewalt – Folter und Tod warteten, nur weil man Christ war. Einige wenige Superreiche regierten die Stadt und viele andere waren rechtlos. Es gab große Armut, das Durchschnittsalter lag bei etwa Mitte 30 und viele Kinder starben noch im Kindbett. Eine Situation, die wir uns im Österreich von heute kaum vorstellen können. Gott sei Dank! Und in diese Situation hinein schreibt Paulus: Wir haben Frieden mit Gott. Wir sind gerecht. Wie gut es uns doch geht. Und er geht noch weiter, wenn er meint: Wir rühmen uns der Bedrängnis, denn Bedrängnis bringt Geduld. Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung. Liebe Gemeinde, das klingt zunächst einmal nach einer gehörigen Portion Masochismus! Oder nach einem nachträglichen Schönreden von negativen Erfahrungen. Aber Paulus ging es weder um ein Schönreden noch um ein masochistisches, rein passives Erdulden. Das wird in der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache noch deutlicher. Dort heißt es: „Auch in Stunden großer Not können wir uns glücklich preisen, denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass große Not die Kraft zum Widerstehen stärkt. Diese Kraft stärkt uns, dass wir standhalten können; und die Erfahrung standzuhalten stärkt die Hoffnung.“ Liebe Gemeinde, Paulus forderte also weder die Römer damals noch uns heute dazu auf, aktiv nach negativen Erlebnissen zu suchen. Aber er meint eben auch, dass wir sie nicht scheuen müssen. Dass wir uns nicht fürchten müssen. Weil wir etwas haben, das uns hilft, jede – wirklich jede Situation zu überstehen: Durch den Glauben haben wir Frieden mit Gott. Und aus ihm können wir Hoffnung schöpfen. Was Paulus hier beschreibt, erinnert mich an jenes Phänomen, das wir heute als „Resilienz“ bezeichnen. Vielleicht kennen Sie dieses Wort. Resilienz meint eine Art „seelisches Imunsystem“. Es ist diese bestimmte Kraft, die uns hilft, Schicksalsschläge besser auszuhalten. Die uns hilft, Trauer, Sorge und Angst besser zu bewältigen und unbeschadet daraus hervorzugehen. Viele Forscher beschäftigen sich mit der Frage, wie man Resilienz gewinnen könne. Eine Voraussetzung dafür sind stabile emotionale Beziehungen. Am besten von frühester Kindheit an. Es geht um die Erfahrung, dass ein Mensch da ist, auf den man sich verlassen kann, der an einen glaubt und unterstützt. Das können Eltern und Familie sein, Freunde oder aber auch die Gemeinde, zu der man gehört. Eine Gemeinde, die zu mir hält, die mir zuhört, für mich betet – die kann wohl auch dazu beitragen, resilient zu werden. Wir alle brauchen Menschen, die uns helfen, durch Krisen zu kommen. Menschen, die uns ein Licht am Ende des Tunnels aufzeigen und uns Mut machen, nicht aufzugeben. Die uns einfach manchmal in den Arm nehmen und sagen: Fürchte dich nicht. Fürchte dich auch vor Corona nicht zu sehr. „Ich glaube, alles wird wieder gut!“ Ja, liebe Gemeinde, ich denke, dass wir Christinnen und Christen einander in diesem Punkt helfen und uns unterstützen müssen. Uns aufrichten müssen, statt Panik zu verbreiten. Ein weiteres Kriterium, das als Basis für Resilienz gilt, ist ein positives Selbstbild. Ein Ja zu sich selbst. Aber: Ich meine das nicht – und zwar ganz und gar nicht im Sinne der – wie ich finde – fraglichen Werbekampagne „Glaub an dich“, mit der eine große Bank hierzulande Werbeflächen füllt. Nein. Einfach nur zu sagen: Glaub an Dich (und dazu noch ein paar Selbstoptimierungsbücher lesen) – genügt nicht. So ein Glaube ist kurzsichtig und entbehrt jedes Fundaments. Was passiert mit diesem Glauben bei der ersten Niederlage: nach dem Jobverlust, der Scheidung, dem Verlust eines lieben Menschen oder der eigenen schlimmen Diagnose? Fällt dieser Glaube dann nicht in sich zusammen wie ein Kartenhaus? Wer einfach nur sagt: Glaub an dich, der hat auf Sand gebaut. Der Grund dafür, dass ich mir sagen darf: Ich glaub an mich – liegt doch viel mehr darin, dass vorher ein anderer an mich geglaubt hat. Ein anderer Ja zu mir gesagt und mich geliebt hat. Nämlich Gott. Durch Christus. Gott sagt Ja zu uns, also sollen wir auch Ja zu uns sagen. Nicht wir haben ihn erwählt. Er hat uns erwählt. „Durch unsern Herrn Jesus Christus haben wir Frieden mit Gott“, so drückt es Paulus aus. Dieser Glaube bedeutet für mich persönlich ein tiefes Grundvertrauen. Ein Vertrauen, das mich auch durch schwere Zeiten trägt. Das mich hoffen lässt. Ich stelle mir diesen Glauben manchmal so vor, wie das Fundament so eines Stehaufmännchens. Kennen Sie die? Diese Figuren mit der abgerundeten Unterseite, die durch ein unsichtbares Gewicht immer wieder in eine aufrechte Position gezogen werden, egal wie wild sie durch die Gegend wirbeln. Egal, wie sehr man es versucht, sie können nicht umfallen. Glaube ist für mich dieses Gewicht auf der Unterseite des Stehaufmännchens. Natürlich erspart uns dieser Glaube keine Christenverfolgungen, kein Leid, keine Niederlagen, Konflikte oder schlimmen Schicksalsschläge. Und er erspart uns auch keine Momente von Angst und Verzweiflung. Aber der Glaube hilft uns, den Problemen der Welt ins Auge zu sehen, uns nicht verrückt machen zu lassen und durchzuhalten. Weil wir darauf vertrauen können, dass Gott uns erdet und hält. Der Glaube lässt uns das Positive erwarten. Er lässt uns hoffen. Was für ein Geschenk! Liebe Gemeinde, und trotzdem tanze ich deshalb nicht durch die Kirche und nicht immer durchs Leben. Und ich sehe für Friedrich Nietzsche vermutlich auch noch nicht erlöst aus. Weil ich einfach nicht entrückt bin. Weil ich die Wirklichkeit mit all ihren Bedrängnissen im Blick habe. Und das ist auch gut so. Daher sage ich Euch – Nietzsche hat unrecht: Nicht erlöster müssen wir aussehen, sondern hoffnungsvoller. „Hoffnung lässt nicht zuschanden werden“, sagt Paulus. Das heißt: Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt. Sie stirbt nie. Amen
  • VOM VERGLEICHEN
    Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! Amen. Liebe Gemeinde, heute will ich mit Ihnen ein bisschen über Liebe nachdenken. Und über Gerechtigkeit. Und darüber was beides miteinander zu tun hat. Was braucht es für Sie, damit Sie sich geliebt fühlen? Was macht die Liebe in Ihren Augen aus? Ich weiß, das lässt sich jetzt nicht so schnell und schon gar nicht pauschal beantworten. Daher versuchen wir es doch mit den Worten der großen österreichischen Schriftstellerin Ilse Aichinger. In ihrem Büchlein „Kleist, Moos, Fasane“, in dem Texte und Tagebucheinträge aus Jahrzehnten versammelt sind, steht auch ein ganz kurzer Satz über die Liebe. Und ich finde, es lohnt sich, diesem Satz nachzuspüren. Er heißt: Liebe : aus dem Vergleich ziehen Liebe (ist) aus dem Vergleich ziehen... Ja, liebe Gemeinde. Wenn ich daran denke, was es heißt, geliebt zu sein, dann denke ich daran, dass ich für den anderen Menschen einzigartig bin. Unverwechselbar. Dass ich für meinen Mann eben nicht austauschbar bin... Ist das nicht etwas, wonach wir uns alle irgendwie sehnen? Die oder Der EINE zu sein. Dass uns jemand ins Herz sieht und uns als unvergleichlich anerkennt? Der Vergleich, liebe Gemeinde, der Vergleich – der kann hingegen die Hölle sein. Nicht umsonst heißt es: Der Teufel steckt im Vergleich. Im Vergleich mit anderen, da verliert man plötzlich seine Einzigartigkeit. Da wird man beliebig in der Masse der Konkurrenten. Vergleiche zwischen Menschen helfen wenig und zerstören viel. Das kennen Sie sicher alle selbst! Wie kränkend es sein kann, wenn jemand sagt: Na, dein älterer Bruder hat es beruflich aber schon sehr viel weiter gebracht als du... naja, er war halt immer schon ehrgeiziger als du. Oder wenn man sich abmüht und ein grandioses Familienessen zaubert und dann sagt da einer: Bei deiner Mutter war der Tafelspitz aber immer deutlich zarter und die Schnittlauchsauce war viel sämiger. Oder, wenn die Kinder nörgeln: warum waren wir in den Semesterferien nur Skifahren in Österreich – xy war mit ihren Eltern auf den Malediven... Ja, liebe Gemeinde: Sie hören es schon. Solche Vergleiche sind verletzend und ungerecht. Sie werden UNS nicht gerecht. Weil sie unsere Individualität außer Acht lassen. Weil sie uns selbst und unsere Fähig- und Möglichkeiten nicht erkennen. ABER trotzdem tun wir es. Trotzdem vergleichen wir. Immer wieder. Von Klein an sind wir darauf getrimmt, uns zu vergleichen. Uns zu messen. Was haben die anderen, was ich nicht habe? Warum hat der Schulkollege mehr Freunde, warum hat der Kollege mehr Urlaub als ich. Warum fährt der Nachbar ein größeres Auto, warum bekommt die Schwester mehr Aufmerksamkeit und der Bruder den größeren Teil vom Erbe? Wir definieren unsere Leistung und unseren Wert in direkter Abhängigkeit zu unserem „Lohn“. Sei der Lohn nun Freunde, Urlaub, ein Auto, Geld oder Aufmerksamkeit. Wir vergleichen. Und klar ist: Wer weniger bekommt, ist der Loser. Der hat’s nicht gebracht. Und was nichts bringt, ist sowieso nichts wert. So ist das in unserer Leistungsgesellschaft. Aber es ist nicht erst seit gestern so. In der Bibel erzählt Jesus ein Gleichnis über das Vergleichen. Jedes Gleichnis ist ja sowieso schon ein Vergleich und keine Tatsachengeschichte. Und heute wird es noch doppelbödiger: ein Gleichnis über das Vergleichen – noch dazu ein ebenso ärgerliches wie wunderbares Gleichnis: ein Vergleich über das Himmelreich. Hören Sie den Predigttext. Er steht bei Matthäus 20, 1-16. Von den Arbeitern im Weinberg 1 Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter anzuwerben für seinen Weinberg.2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg.3 Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen 4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. 5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. 6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? 7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. 8 Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. 9 Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. 10 Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. 11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn 12 und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. 13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? 14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. 15 Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin? 16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein. Gott segne reden und hören Ja, liebe Gemeinde – dieses Gleichnis hat es in sich. Viele Menschen empfinden es als Provokation. Als Angriff auf ihren Gerechtigkeitssinn.. Nach menschlichen Maßstäben erscheint es einfach ungerecht, dass diejenigen, die nur eine Stunde gearbeitet haben, den gleichen Lohn erhalten wie die, die sich zwölf Stunden lang abgerackert haben. Kein Wunder also, dass sich die Männer, die in der Tageshitze geschuftet haben, darüber aufregen und sich im Vergleich zu denen, die in der Abendkühle nur ein paar Handgriffe getan haben, ungerecht behandelt fühlen. Ungerecht wird die Sache aber tatsächlich erst im direkten Vergleich. Ursprünglich hatten sich die ersten Tagelöhner ja mit dem Weinbauern über den Lohn geeinigt. Ein Silbergroschen – ein Denar – das entsprach damals dem Durchschnittlohn eines Tagelöhners. Damit konnte ein Mann sich und seine Familie einen Tag lang durchbringen. So war es damals in Palästina. Dieses System der Lohnarbeit, die jeden Tag neu vergeben wird, war damals gang und gäbe und sie wird hier auch nicht kritisiert. So eine grundlegende soziale Unsicherheit können wir uns heute im Österreich des 21. Jahrhunderts kaum vorstellen. Mit unseren Sozialversicherung und sozialen Netzen – GOTT SEI DANK. Aber zurück nach Palästina. Erstaunlich ist, dass der Weinbauer nur mit den ersten Arbeitern über den Lohn verhandelt hat. Den anderen wird lediglich ein „gerechter Lohn“ versprochen. Tja, aber was ist gerecht? Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – würden jetzt vermutlich die ersten Arbeiter im Weinberg sagen. Sie vergleichen sich. Ihre Arbeit und ihren Lohn. Aber sie vergleichen eben auch nur das, was sie sehen können. Das Offensichtliche. Was im Dunkeln liegt, sehen sie nicht. Sie fragen sich nicht, wie es den anderen Arbeitern wohl ergangen ist, als sie um die Mittagsstunde noch immer auf dem Marktplatz herumlungerten. Als sie bettelten um Arbeit, bereit jede Art von Job anzunehmen, der sich ihnen anbieten würde. Getrieben von der Angst, am Abend mit leeren Händen nach Hause zu kommen. Die Frau enttäuschen zu müssen. Dem Kind die nötige Medizin nicht kaufen zu können. Sie sehen nicht, wie die arbeitslosen Arbeiter trotz der Mittagshitze nicht wagten, den letzten Schluck Wasser aus dem Schlauch zu trinken, weil sie nicht wussten, wie lange er noch ausreichen müsste. All das konnten die ersten Arbeiter nicht sehen, sie waren ja beschäftigt. Sie sahen nur: Da gibt es welche, die haben weniger geleistet, also sollen sie auch weniger bekommen. Mit dem Vergleich beginnt das Elend. Mit dem Vergleich, liebe Gemeinde, kommt der Teufel ins Spiel. Es ist wichtig, festzuhalten, dass es Jesus nicht um Lohngerechtigkeit ging. Sein Gleichnis handelt von Gottes Güte. Und die, sagt Jesus, ist mit nichts zu vergleichen. Jeder und jede steht für sich vor Gott. Und ist dankbar oder nicht. Jesu Gleichnis, liebe Gemeinde, richtete sich vor allem gegen die damaligen Kritiker seiner Botschaft. Gegen jene, die meinten ein gütiger Gott, der den Sündern vorbehaltlos vergeben will, sei nicht gerecht. Weil er Sünder und Gerechte in einen Topf wirft. Weil er sie gleich behandelt und nicht ihre Leistung vergleicht. Aber so ist er nun mal, unser Gott. Er passt nicht in unser Schema von Leistungs- und Lohndenken. Das wissen wir spätestens seit Luther, der uns noch mal ganz deutlich gemacht hat, dass wir aus eigener Kraft bei Gott nichts erreichen können. –Mit unseren Leistungen können wir ihn nicht beeindrucken. Er verteilt seine Güte nach seinem Maßstab. Und er verspricht, dass niemand zu kurz kommt. Wenn wir hier auf Erden unser Leben bewerten wollen, dann empfiehlt uns Jesus, dass wir nur unser eigenes Leben bewerten sollen und eben nicht auf andere schaun. Sonst könnten wir missgünstig werden. Unzufriedenheit im Leben kommt oft daher, dass wir uns und unser Leben mit dem der anderen vergleichen. Natürlich nur mit denen, denen es angeblich besser geht. Die mit den leuchtenden Lebensläufen. Die mit der fabelhaften Gesundheit. Die mit den immer braven und fleißigen Kindern oder Enkeln. Die noch dazu wie druckreif reden können und die jeden neuen Tag freundlich anlächeln. Ja, da könnte man blass werden vor Neid. Ja, liebe Gemeinde: Der Teufel liegt im Vergleich, weil vergleichen so einfach ist. Vergleichen macht gleich. Es verkennt, dass jeder Mensch ein einzigartiges Wesen ist. Mit eigenen Bedürfnissen und Voraussetzungen. Der Vergleich sieht immer nur das Offensichtliche. Nie das Dahintergelagerte. Der Vergleich sieht den Silbergroschen für die Stunde Arbeit, aber nicht die Stunden voll Verzweiflung, voll Unsicherheit, Durst und Entsagung. Der Vergleich ist immer nur eine Momentaufnahme und versperrt den Blick für das Große und Ganze. Für das was WIR bereits haben. Für das, was gut ist! Für den Weg, den Gott mit uns ganz persönlich geht. Ja, Gottes Gerechtigkeit kennt kein Vergleichen. Denn Gott sieht die Menschen mit dem Blick der Liebe an. Und Liebe bewertet eben nicht. Sie rechnet nicht auf. Sie fragt nicht: „Was hast du geleistet?“ sondern sie schenkt Wert. Gottes Liebe wendet sich dem Einzelnen zu. In seiner Individualität, mit seinen eigenen Bedürfnissen und Interessen. und fragt: „Was brauchst DU, genau DU zum Leben?“ Liebe: Aus dem Vergleich ziehen Gottes Liebe zieht uns aus dem Vergleich. AMEN (In Auszügen inspiriert von Werkstatt für Liturgie und Predigt) Und der Friede Gottes...
  • WEIL NICHT SEIN KANN, WAS NICHT SEIN DARF"
    Johannes 20,11-18 Die Gnade Jesu Christi, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen Liebe Gemeinde, ich habe mich für den heutigen Predigttext entschieden, weil er für mich einer der schönsten Texte der Bibel ist. So klar wie rätselhaft. So berührend wie hoffnungsvoll. Es handelt sich – ganz klassisch zu Ostern – um eine Auferstehungserzählung. Aufgeschrieben hat diesen Text der Evangelist Johannes und er schreibt natürlich von Jesus. Und von einer Frau. Von Maria aus dem Fischerort Magdala. Auch bekannt als Maria Magdalena. Sie war eine der engsten Weggefährtinnen Jesu. Von sieben bösen Geistern hat er sie geheilt, so erzählt es Markus. Mit bösen Geistern und Dämonen erklärte man sich damals ja meist psychische Krankheiten. Maria Magdalena dürfte wohl ziemlich durch den Wind gewesen sein, als Jesus sie traf. Aber Jesus ließ sich davon nicht abschrecken. Er nahm sich ihrer an, heilte sie und holte sie zurück ins Leben. Sie wurde seine Jüngerin. Seine Weggefährtin. Bis zum letzten Atemzug. Verbunden durch ein gemeinsames Lebenselixier: Die Vision vom Reich Gottes. Wie unendlich groß muss ihr Entsetzen gewesen sein, als Jesus auf einmal mitten in der Nacht gefangengenommen wurde. Wie furchtbar musste es für sie gewesen sein, als sie mitansehen musste, wie man ihn folterte, quälte und verhöhnte. Wie unendlich groß muss ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit gewesen sein, als Jesus gekreuzigt wurde und unter höllischen Schmerzen starb. Ich kann mir vorstellen, dass sich unter Marias Füssen nach Jesu Tod ein tiefes schwarzes Loch aufgetan hat. Es muss sich angefühlt haben, als wäre ihr eigenes Leben vorbei. Alles, was sie geglaubt, geliebt und gehofft hatte, war tot und begraben. In dieser unendlichen Trauer geht Maria Magdalena zum Grab. Um Jesus, diesen verurteilten Verbrecher, noch einmal zu sehen. Seinen Körper einzubalsamieren. Ihn noch einmal zu berühren, noch einmal zu ehren. Doch als sie zum Grab kommt, findet sie den Stein, der das Grab verschließen soll, weggerollt. Entsetzt rennt sie los - zu Petrus und Johannes, und ruft: Sie haben den Rabbi fortgebracht. Er ist fort! Und so eilen die beiden Männer mit ihr zum Grab und finden es tatsächlich leer. Das ist zu viel für die beiden Männer. Zu viel der Demütigung. Erst richten sie ihren Rabbi hin, wie einen Verbrecher und dann schänden sie auch noch seine Leiche. Die Männer gehen. Verkriechen sich. Nur Maria – sie bleibt. Und hier beginnt unser Predigttext: „Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie weinte, beugte sie sich in das Grab hinein und sah zwei Engel in weißen Kleidern dasitzen. Einer am Kopf und einer an den Füße, wo der Körper Jesu gelegen hatte. Sie sagten zu ihr: Frau, warum weinst du? Sie sagte zu ihnen: Sie haben meinen Rabbi fortgenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingebracht haben. Als sie dies gesagt hatte, drehte sie sich um und sah Jesus dastehen, aber sie wusste nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie dachte, dass er der Gärtner wäre und sagte zu ihm: Herr wenn du ihn weggetragen hast, sage mir, wo du ihn hingebracht hast und ich werde ihn holen. Jesus sagte zu ihr. „Maria!“ Sie wandte sich um und sagte zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni! Das heißt Lehrer. Jesus sagte zu ihr: Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht zu Gott, meinem Ursprung, aufgestiegen. Geh aber zu meinen Jüngern und sage ihnen: ich steige auf zu meinem Gott und eurem Gott, zu Gott, der mich und euch erwählt hat. Maria aus Magdala kam und verkündete den Jüngerinnen und Jüngern: Ich habe Jesus den Lebendigen gesehen. Gott segne Reden und Hören Ja liebe Gemeinde. Das ist die Geschichte von Maria Magdalena. Die Geschichte ihres großen Momentes. Der niemals aufhören wird. Maria ist mit Salböl und Tüchern gekommen. Und sie geht mit einem Auftrag. Sie kommt in tiefster Verzweiflung und sie geht mit freudiger Hoffnung! Maria aus Magdala ist, wenn man so will, die erste Christin. Die erste, die an den Auferstandenen glaubt. Nein - diese namenlose Frau, die Jesus die Füße gesalbt hat, diese ehemalige Prostituierte, die war sie nicht. Die ist ihr erst später angedichtet worden. Sie war die erste Missionarin. Eine Apostelin. Denn sie, eine Frau, bekommt den Auftrag, den Jüngern die Osterbotschaft weiterzusagen. Maria aus Magdala ist eine der wichtigsten Quellen für unseren christlichen Glauben – und das in einer Zeit, als das Zeugnis von Frauen vor Gericht zum Beispiel gar nichts wert war. Das sagt viel über das moderne Frauenbild Jesu, der seiner Zeit damit um Jahrtausende voraus war. Aber zurück zum Bibeltext. Neben der Auferstehung an sich, hat dieser Text für mich noch eine andere große Besonderheit. Haben Sie sich nicht auch schon mal gefragt: Warum erkennt Maria Magdalena Jesus eigentlich nicht? Da steht der, um den sie trauert direkt vor ihr. Ihre große Liebe. Der, der ihr Alles bedeutete. Und der spricht sogar mit ihr. Und sie - sieht ihn und sieht ihn nicht. Mehr noch: Sie hält ihn sogar für jemand anderen. Für den Gärtner! Und dann fährt sie ihn auch noch an: Wenn du meinen Herrn weggetragen hast, dann sag mir gefälligst wohin du ihn gebracht hast. Holen kann ich ihn dann schon selbst. Liebe Gemeinde: Was ist das? Was passiert da? Kennen Sie das Gedicht „Die unmögliche Tatsache“ von Christian Morgenstern? Da heißt es im Schlussvers: „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“ Vielleicht ist es das? Maria ist blind für das, was nicht sein kann. Sie sieht ganz offensichtlich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Weil Jesus doch tot ist. Mausetot. Sie war am Fuß des Kreuzes, als er seinen letzten Atemzug aushauchte. Sie kommt zum Grab, in Erwartung eine Leiche zu finden. Dass die nun quietschfidel vor ihr stehen soll, ist so lächerlich absurd, dass sie es einfach nicht sehen kann. Sie ist nicht bereit für dieses Wunder. Liebe Gemeinde, geht uns das nicht auch manchmal so? Dass wir einfach nicht sehen, was wir nicht glauben wollen. Weil es einfach nicht sein kann? Wir oft sind wir blind für das Gute und Schöne, das sich direkt vor unseren Augen abspielt. Blind für positive Überraschungen, für Wunder - weil wir sie einfach nicht glauben können. Weil wir voll und ganz auf unser eigenes festes oft negatives Bild von der Welt fixiert sind. So wie Maria. Auch sie glaubt nicht, was sie sieht. Sie kann es einfach nicht glauben. Ihre Augen und Ohren werden erst in dem Moment geöffnet, als Jesus ihren Namen sagt: Maria. Maria... Da erkennt sie ihn, ihren Rabbi. Da sieht sie ihn. Neu. So wie er jetzt ist. Und Maria Magdalena lässt los. Das Bild des toten Jesus, das sich ihr unterm Kreuz für immer ins Gedächtnis eingebrannt hat. Das Bild vom Leben, das mit dem Tod ein Ende hat. Das Bild von ihrem eigenen Leben, das sie sich nicht mehr anders vorstellen konnte, als an der Seite Jesu. Jetzt ist es Zeit für neue Bilder. Für neues Leben. Für neuen Glauben. Für neue Hoffnung. Liebe Gemeinde. Und genau das ist Ostern. Für Maria, für die Jünger und für uns! Ostern ist die Erkenntnis, dass die Dinge oft anders liegen, als wir denken. Dass es anderes kommt, als wir erwarten. Und planen. Aber Ostern ist eben auch die Hoffnung, dass Gott aus allem - auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will. Ostern ist das Vertrauen, dass es immer einen neuen Anfang gibt. Ostern ist - um es mit jenen Worten zu sagen, die sowohl Oscar Wilde als auch John Lennon zugeschrieben werden: Ostern ist die Hoffnung, dass am Ende alles gut wird. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende. AMEN
  • VON ECHTER VERGEBUNG UND BILLIGER GNADE
    Predigt, 3. So nach Trinitatis 28.6.2020 – Micha 7, 18-20 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes, des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!” „Mein lieber Sohn, nachdem du unser Telefonat einfach grußlos beendet hast, möchte ich die Dinge eben schriftlich klären. Gleich vorweg: Ich fühle mich keiner Schuld bewusst. Dass Deine Frau so dünnheutig auf gutgemeinte Ratschläge reagiert, ist bedauerlich. Ein Problem, auf das ich Dich ja von Anfang an hingewiesen habe. Es ist völlig übertrieben, dermaßen überzureagieren, nur weil ich sie freundlich darauf hingewiesen habe, dass ihr Gulasch ungenießbar ist. Und dass sie Euren Jüngsten völlig verhätschelt und verzogen hat, sieht ja ein Blinder. Es war längst an der Zeit, dass ihn einmal jemand in seine Schranken weist. Und trotz allem überweise ich ihm ja monatlich ein stattliches Taschengeld. Statt also beleidigte Leberwurst zu spielen, solltet Ihr mir dankbar sein, dass ich Euch so tatkräftig unterstütze. Aber wenn Ihr darauf besteht, entschuldige ich mich eben. Bitte. In der Annahme, dass damit die künstlich herbeigeführten Zwistigkeiten bereinigt sind, grüße ich Dich! Deine Mutter p.s. sag Deiner Frau, sie brauche sich am Sonntag mit dem Essen nicht zu bemühen, ich bringe mein eigenes mit.“ Liebe Gemeinde, was ich eben vorgelesen habe, ist ein fiktiver Brief. Aber aus Seelsorgegesprächen und eigener Lebenserfahrung weiß ich, dass solche Briefe oder Gespräche täglich zuhauf stattfinden. In den besten Familien kommt es vor, dass sich einer über den anderen erhebt. Dass die eine die andere kaum wahr- und schon gar nicht ernstnimmt. Dass Kränkungen vom Tisch gewischt werden, weil einer die Deutungshoheit übernimmt und bestimmt, wann und warum der andere gekränkt sein darf. Am Arbeitsplatz, in Schulen, in der Politik und sogar in Freundeskreisen kommt es immer wieder vor, dass Gefühle mit großer Selbstgefälligkeit verletzt werden. Manchmal kommt es mir so vor, als wären Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit geradezu Zeichen unserer Zeit: Wir fühlen uns ja sooo im Recht. Die Schwiegermutter, deren egozentrische Schwiegertochter ihr den Sohn ausgespannt hat – sie fühlt sich mit ihrer Kritik im Recht. Der Kollege, der hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand die lahme Arbeit der Kollegin schlecht macht – fühlt sich im Recht. Muss doch auch mal gesagt werden, oder? Der Pflastersteinwerfer in Stuttgart, der sich endlich für die vielen gefühlt erlittenen Schikanen durch den Staat revanchieren kann, indem er Beamte angreift – er fühlt sich im Recht. Der Fussballverein, der sich nicht klar von einem sexistischen Spruchband distanzieren will -, er fühlt sich im Recht. Früher hätten solche Äußerungen doch auch niemanden gestört! Man kennt doch seine Pappenheimer - die Kritiker sollen sich bitte alle nicht so anstellen. Nächstenliebe in Form von Empathie und aufrichtigem Interesse am anderen und Gottesliebe – in Form von Demut und Gehorsam gegenüber seinen Geboten, die vermisse ich dieser Tage oft. Nicht nur in säkularen, auch in kirchlichen Kreisen. Dietrich Bonhoeffer hat das schon vor mehr als 80 Jahren festgestellt. In seinem Buch „Nachfolge“ führte er diese Selbstgerechtigkeit, dieses „Sich selbst gerecht sprechen“ auch auf ein Missverständnis der Reformation und der Rechtfertigungslehre zurück. Er schrieb damals: „Man kann die Tat Luthers nicht verhängnisvoller missverstehen als mit der Meinung, Luther habe mit der Entdeckung des Evangeliums der reinen Gnade einen Dispens für den Gehorsam gegen das Gebot Jesu in der Welt proklamiert;“ Als wäre der Preis für alle Untaten auf Ewigkeit im voraus bezahlt. So eine Gnade wäre billige Gnade, sagt Bonhoeffer. Gnade ohne Preis, ohne Kosten.. Allgemeingut einer säkularen Welt. Tatsächlich sind Gnade und Vergebung zentrale Wesensbestandteile des christlichen Glaubens. Auch im Alten Testament hören wir davon. Zum Beispiel in unserem heutigen Predigttext. Er steht im Buch des Propheten Micha, Kapitel 7 die Verse 18 bis 20 Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast. Gott segne unser Reden und Hören, Amen Ja, liebe Gemeinde, wir haben es gehört: Wir haben einen unfassbar, unbegreifbar gnädigen Gott. Er vergibt uns. Er schaut uns ins Herz. Er kennt uns und ist bereit, immer wieder von Neuem auf uns zuzugehen. Er rechtfertigt uns als seine Geschöpfe und spricht uns entgegen aller Sünde gerecht. Ohne, dass wir etwas dazu beitragen können. Das ist phantastisch. Das ist Versöhnungstheologie. Das ist Christentum. Ein grundlegendes Missverständnis wäre es nun aber, mit dieser Rechtfertigung im Kopf davon auszugehen, dass nun ja eh alles Wurscht ist. Eine Missinterpretation von Luthers „pecca fortiter“, also : sündige mutig, wäre die Folge. So eine Gnade wäre laut Bonhoeffer eben billige Gnade und die sei der Todfeind unserer Kirche. „Unser Kampf heute geht um die teure Gnade“, sagt Bonhoeffer. Was meint er damit? Was ist „teure“ Gnade? Ich denke, es ist jene Gnade, die immer wieder neu erbeten, die immer wieder neu gesucht werden muss. Sie ist kein einfaches Lossprechen von Schuld, sondern sie verlangt, dass wir uns mit unserem Tun auseinandersetzen. Dass wir Schuldeinsicht zeigen. Denn diese Gnade verdammt zwar nicht den Sünder, aber die Sünde verdammt sie sehr wohl. Sie ist teuer, weil sie uns alles abverlangt und uns in die Nachfolge Christi ruft. Und zwar ganz konkret. In dieser Welt. In unserem Leben. Gegenüber Gott und unserem Nächsten. Für diese Gnade reicht kein lapidares „sorry“ oder „tschuldigung“ und die Hoffnung, dass die unangenehme Sache damit vom Tisch ist. Wenn wir Gottes Gebote mit Füssen treten, indem wir uns über andere erheben, sie kränken, verletzen, übergehen oder ihnen gegenüber übergriffig werden, dann braucht es mehr! Dann braucht es eine Entschuldigung. Und zwar eine echte Entschuldigung. Es braucht die Bereitschaft, sich mit dem Gegenüber und dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Verletzte Gefühle müssen Raum bekommen. Sie müssen wahr- und ernstgenommen werden. Erst wenn man aufhört, auf sein angebliches Recht zu pochen, wenn man dem anderen Raum gibt und versucht, zu verstehen, wie und wie sehr man ihn gekränkt hat, macht es Sinn, um Entschuldigung zu bitten. Erst wenn man bereit ist, Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen, erst dann kann auch zwischen Menschen Versöhnung und Vergebung stattfinden. Was Vergebung heißt, hat der katholische Theologe Otto Hermann Pesch einmal folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Einem Menschen vergeben heißt nicht, das, was er getan hat, für ungeschehen erachten. Es nicht wahrhaben wollen oder schlicht vergessen. Vergeben kann unter Umständen bedeuten, gerade nicht zu vergessen... Vergebung heißt nicht das Ja zu einer vergangenen Schuld, wohl aber das Ja zu einem Menschen MIT seiner vergangenen Schuld.“ Vergeben heißt nicht vergessen! Das finde ich wichtig. Und trotzdem soll die Kränkung nicht das letzte Wort behalten. Und Gottes Gnade soll, wann immer es möglich ist, durch und in uns schon hier auf dieser Welt spürbar werden. Liebe Gemeinde: Ob es nach jenem Brief, den ich eingangs gelesen habe, zu einer Aussöhnung zwischen der übergriffigen Schwiegermutter und ihrer Schwiegertochter bzw. ihrem Sohn kommen kann, weiß ich nicht. Ob Vergebung stattfinden kann, liegt eben auch an den handelnden Personen. Euch, die Ihr hier seid, die Ihr in Christi Namen hier versammelt seid, möchte ich aber zurufen: Tut den ersten Schritt! Gebt Euch nicht mit billiger Selbstgerechtigkeit zufrieden, das steht uns Christinnen einfach nicht! Sucht Vergebung, seid Euch eurer Schuld bewusst und vergebt Euren Schuldigern. so wie Paulus es im Brief an die Epheser schreibt: „Seid gütig zueinander, mitleidig und vergebt einander, so wie auch Gott in Christus euch vergeben hat.“ (Epheser 4,32) Amen Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN
  • ÜBERWINDE DAS BÖSE MIT GUTEM (Ordinationspredigt vom 13.9.2020)
    Gnade sei mit Euch und Friede vom dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen. Sie war die Heldin meiner Jugend. Eine junge Frau mit ungeheurer Strahlkraft und unfassbarem Schicksal. Hervorgegangen aus königlichem Haus - aus einer schicksalhaft verstrickten Verbindung. Die Mutter nimmt sich das Leben, der Vater geht in die freiwillige Verbannung. Übrig bleiben vier Kinder. Zwei Brüder und zwei Schwestern. Die Brüder geraten in Streit. Es geht um die Vormachtstellung. Um das Sagen. Um die Krone. Sie bekriegen sich und töten sich schließlich gegenseitig. Sicherlich wäre die Geschichte anders, besser ausgegangen, hätte eine der Schwestern den Thron bestiegen, aber daran war vor fast 2.500 Jahren nicht zu denken. Also wird ihr Onkel König und hier beginnt die Geschichte, die mich als Jugendliche so fasziniert und bis heute in ihren Bann gezogen hat. Die Tragödie von Antigone. Auf dem humanistischen Gymnasium, das ich damals in der kleinen fränkischen Stadt Neustadt / Aisch besuchte, haben wir Antigone nicht nur im Unterricht gelesen. Wir haben das Stück von Sophokles auch in der Theater-AG zum Besten gegeben. Gerne würde ich Ihnen jetzt sagen können, dass ich Antigone war – aber mein Schauspieltalent hat damals leider nur für eine kleinere Rolle, für ihre Schwester Ismene, gereicht. Das änderte aber nichts an meiner grenzenlosen Bewunderung für Antigone, diese junge Frau, die es wagte, sich dem despotischen König zu widersetzen. Der hatte nämlich angeordnet, dass nur einer der beiden Brüder ein ordentliches Begräbnis bekommen sollte. Der andere, der Angreifer und angebliche Vaterlandsverräter sollte auf dem Schlachtfeld liegenbleiben und den Vögeln zum Fraß dienen. Seine Seele würde damit keinen Einlass ins Jenseits finden – er wäre für immer verloren. Für die Schwester ist diese Vorstellung nicht zu ertragen. Sie kann den toten Bruder nicht einfach liegen lassen. Es widerspricht ihrem Moralempfinden, ihrer Geschwisterliebe und ihrem schwesterlichen Pflichtbewusstsein. Der Hass muss spätestens mit dem Tod enden, findet sie und versucht, dem toten Bruder auf eigene Faust die letzte Ehre zu erweisen. Wissend, dass darauf die Todesstrafe steht. Und wie sollte es bei einer Tragödie anders sein: Sie wird beim Bestattungsversuch gefasst und vor den Herrscher geführt. Hier kommt es zu einer beeindruckenden und leidenschaftlichen Rede, nach dem Motiv: Ich stehe hier und kann nicht anders. Antigone erklärt, warum sie das Unrecht nicht mittragen kann und ihrem Gewissen folgen muss. Spätestens bei den gipfelnden Worten: Nicht mitzuhassen, sondern mitzulieben bin ich da... musste ich als Schülerin bei jeder Theaterprobe weinen. Natürlich auch im Wissen darum, dass Antigone wenig später durch eigene Hand stirbt. Antigones große Tat war der Versuch, Unrecht mit Recht zu beantworten. Hass mit Liebe zu überwinden. Böses mit Gutem. Antigones humanistische Lebenshaltung und ihr unbedingter Wille, gegen alle Widerstände ihrem Gewissen zu folgen, haben mich lange fasziniert und geprägt. Insgeheim wollte ich sein wie sie. Aber mit zunehmendem Alter und zunehmender Lebenserfahrung hat meine Bewunderung kleine Risse bekommen. Die radikale Kompromisslosigkeit in der Antigone gefangen war, dieses unversöhnliche Schwarz-Weiß-Denken in Gut und Böse waren mir nicht mehr ganz geheuer. Außerdem wurde mir klar, dass Antigone natürlich ein Kind ihrer Zeit war. Dass ihre Liebe exklusiv war. Dass sie sich auf Gleichrangige beschränkte. In diesem Fall auf Mitglieder der Königsfamilie. Dass es im antiken Weltbild des Dichters Sophokles einfach nicht vorgesehen war, ähnlichen Heldenmut, ähnliche Liebe auch für einen Menschen niedrigeren Standes aufzubringen. Für eine Sklavin oder die Angehörige eines verfeindeten Volkes vielleicht. Für gestrandete Flüchtlinge auf griechischen Inseln. Für mich oder für Sie. Da brauchte es noch einige weitere Jahrhunderte bis einer kam, der Antigones wirklich guten Ansatz weiterdachte. Weiter fasste. Der uns zeigte, was wahre Liebe wirklich ist. Dessen Liebe nicht an der eigenen Wohnungstür, mit dem eigenen Stammbaum oder den eigenen Gesinnungsgenossen endete. Seine Liebe kannte kein schwarz-weiß. Kein drinnen und draußen. Jesus von Nazareth. Der Sohn Gottes und Held meines Erwachsenenlebens. Der mir die Augen noch weiter geöffnet und mich in seinen ungeheuren Liebesbann gezogen hat. Jesus Christus fragt nicht, wie oder was ein Mensch ist, was er geleistet oder unterlassen hat. Er fragt nicht, ob mir jemand nahesteht oder nicht. Ob er die gleiche Partei wählt, Plastik vermeidet, Bio einkauft und für Black-Lives-Matter auf die Straße geht oder ob er immer noch das Billigfleisch vom Discounter isst, gegen Corona-Maßnahmen und Impfungen demonstriert und den amerikanischen Präsidenten gut findet. Für Jesus Christus macht die Liebe vor keinem Menschen halt. Denn alle sind Gottes Geschöpf und Gottes Ebenbild. Für sie alle hat Jesus gelebt. Für alle hat er gelitten. Für alle ist er gestorben. Und für alle ist er auferstanden. Für mich, für Sie, für alle. Und die Tatsache, dass Gottes Liebe wirklich vor nichts und niemandem Halt macht, auch nicht vor uns mit all unseren kleinen und großen Fehlern und Schwächen, die macht etwas mit uns aus. Die Liebe Gottes hat die Kraft, uns zu verändern. Unseren eigenen Blick auf die Welt und auf unsere Mitmenschen. Gottes Liebe zwingt uns geradezu in allem was geschieht, nach dem Guten zu suchen. Sie fordert uns auf, in unseren Mitmenschen das Liebenswerte zu suchen. Das Gottesebenbildliche. Und zwar in allen. Natürlich muss auch ich zugeben, dass ich niemals alle Menschen lieben oder auch nur mögen werde. Aber ich kann versuchen, mein Gegenüber als Gottes geliebtes Geschöpf zu sehen. Und das ist doch immerhin ein Anfang. Albert Einstein hat einmal gesagt: „Die wichtigste Entscheidung, die wir treffen, ist ob wir glauben, in einem freundlichen oder feindlichen Universum zu leben.“ Ja, liebe Gemeinde: Leben wir in einer freundlichen oder in einer feindlichen Welt? In einer guten oder in einer bösen? Sind die Menschen da draußen unsere Freunde oder unsere Feinde? Wollen sie uns böese, wollen sie uns ausnützen oder können wir vielleicht voneinander profitieren. Es liegt nicht an der Welt. Nicht an den anderen. Es liegt an uns, das zu entscheiden. Jeden einzelnen Tag und in jedem einzelnen Moment treffen wir diese Entscheidung. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“. Diesen Satz aus dem Römerbrief habe ich für meine Ordinationspredigt gewählt, weil er für mich eine Quintessenz des Christentums ist. Weil Gott selbst Liebe ist. „Überwinde das Böse mit Gutem“ – um das zu verkündigen, um uns immer und immer wieder daran zu erinnern, sei es hier von der Kanzel, sei es im persönlichen Gespräch, in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen oder sei es im Digitalen Raum - dazu haben Sie mich zu Ihrer Pfarrerin gewählt. Unter dieses Motto will ich meinen Dienst in dieser Gemeinde stellen. „Überwinde das Böse mit Gutem“ – (das) ist für mich die einzig sinnvolle Reaktion auf die Welt. Wo kämen wir hin, wenn wir NICHT danach handeln würden? Wo kämen wir hin, wenn nicht vernünftige Regierungen in mühsamen Verhandlungen und trotz aller Widerstände (und Wenn und Aber) nach friedvollen, menschenwürdigen Lösungen suchen würden? Wo, liebe Gemeinde, kämen wir hin, wenn nicht Bürgerinnen und Bürger, Kirchen und scheinbar naive Idealisten sich immer wieder gegen Unrecht und Ignoranz einsetzen würden, gegen das Wegsehen oder Empathielosigkeit? Wo kämen wir hin, wenn wir aufhören würden, Menschen aus brennenden Häusern zu retten – oder von verbrannten Inseln. Wo kämen wir hin ohne Menschen, die trotz aller Vorbehalte, aller Kränkungen und Verletzungen aufeinander zugehen, sich wieder und wieder die Hand reichen, um irgendwann endlich in Frieden nebeneinander zu leben? Wo, liebe Gemeinde, kämen wir hin, wenn wir unseren Glauben an Gottes gute Schöpferkraft verlieren und uns in den Sog der Skrupellosen ziehen lassen würden? Oder resigniert das Feld den Dummen überließen, den Relativierern, den Pöbelnden und Egomanen? Niemals, liebe Gemeinde. Niemals in der Welt hört Hass durch Hass auf, Hass hört durch Liebe auf. Ein Zitat, das Buddha zugeschrieben wird. Oder um es in den Worten unserer Religion, in den Worten des Apostel Paulus zu sagen: Was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer Hass sät, wird Hass ernten. Wer Resignation säht, wird Resignation ernten. Wer Liebe sät, wird es zwar nicht immer leicht haben, aber er wird den Nährboden für eine bessere Welt bereiten. Eine Welt, wie wir sie unseren Kindern hinterlassen wollen. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Wo kämen wir hin, liebe Gemeinde, WENN wir daran glauben, wenn wir DANACH leben würden? Ich bin sicher: ein gutes Stück weiter auf dem Weg zum Reich Gottes. AMEN (Römer 12,21)
  • GASTFREUNDLICH - WAS BEDEUTET DAS HEUTE NOCH?
    Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis – Gastfreundschaft Hebr 13, 1-3 Gnade und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus sei mit Euch allen - AMEN Der Predigttext für den heutigen 7. Sonntag nach Trinitatis, steht im Hebräerbrief, im 13. Kapitel, die Verse 1 – 3: Bleibt fest in der brüderlichen Liebe. 2 Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. 3 Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt. Gott segne unser Reden und Hören, Amen Liebe Gemeinde, unser heutiger kurzer und prägnanter Predigttext hat mich in der vergangenen Woche viel beschäftigt. Vor allem der Aspekt der Gastfreundschaft, in einer Zeit, in einem Sommer, in dem wir uns Corona-bedingt sehr gut überlegen müssen, wen wir besuchen. Wo wir hinreisen dürfen. Wo wir zu Gast sein dürfen. Und wie wir uns als Gäste verhalten. Vieles, was so selbstverständlich war – die Reisefreiheit, die Unbeschwertheit im Urlaub, die sommerliche Leichtigkeit sind heuer durch Mundschutzpflicht und Abstandsregeln durch Reisewarnungen und die Angst vor neuen Virus-Clustern in Frage gestellt. Und wir müssen nicht einmal in die Ferne schweifen. Selbst bei ganz normalen Einladungen, bei der Einladung zum Abendessen, bei der Kindergeburtstagsparty, beim Treffen mit lieben Bekannten im Caféhaus oder im Schwimmbad müssen wir unsere Verhaltensnormen hinterfragen. Und manchmal neu definieren. Dürfen wir das, was früher selbstverständliches Zeichen von Gastfreundschaft und Willkommenskultur war, heute noch unbeschwert ausleben? Dürfen wir uns umarmen, küssen, Hände schütteln, ungezwungen miteinander essen und trinken? Wie garantieren wir, dass wir uns nicht zu nahekommen? Und was ist mit unserer Tischgemeinschaft, hier in der Kirche? Das Abendmahl ist eigentlich selbstverständlicher Bestandteil jedes Sonntagsgottesdienstes hier in der Lutherischen Stadtkirche und nun konnten wir es schon seit so langer Zeit nicht mehr in gewohnter Form feiern. Und ich weiß, wie vielen von Ihnen und mir auch diese Malgemeinschaft fehlt. Weil wir sie brauchen, weil wir sie ersehnen. Weil Jesus selbst diese Gemeinschaft gestiftet hat. Und ich bin sicher, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten hier neue Wege suchen und finden müssen, wie wir das Abendmahl wieder feiern können. „Vergesst nicht, gastfrei zu sein“ – diese Aufforderung des Apostel Paulus klingt geradezu nach Hohn in einem Sommer, in dem Gastfreundschaft dermaßen in der Kritik steht.. Denn auch die Gastfreundschaft – im Sinne des Wirtschaftszweigs, des Tourismus, ist ja in den letzten Monaten mitunter massiv in die Kritik geraten. Ich denke an Ischgl. Und natürlich frage ich mich auch, ob es noch unter Gastfreundschaft zu verbuchen ist, wenn man Gäste mehr oder weniger wissentlich einer Gefahr aussetzt, sie nicht heimschickt, damit sie ihren wohlverdienten Urlaub ungestört genießen können. Aber natürlich auch, damit sie genug Zeit haben, das nötige Kleingeld im Land zu lassen? Und was ist mit den Gästen? Zum Beispiel auf Mallorca? Wo manche einfach nicht akzeptieren wollen, dass das kollektive Urlaubsbesäufnis heuer eben nicht so exzessiv stattfindet wie gewohnt. Wo sich manche einfach daneben benehmen. Wo sie Vorsicht und Rücksicht dermaßen über den Haufen werfen, dass große Freizeitlocations auf dem Ballermann rigoros geschlossen werden müssen. Wie verhält es sich mit unserer Gastfreundschaft? Und wie verhalten wir uns, im Sommer 2020, als Gastgeber und als Gäste? Müssen wir Gastfreundschaft neu definieren? Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt... ...sagt uns unser Predigttext... Was in unseren Ohren ein wenig pathetisch klingt, war für die LeserInnen des Hebräerbriefs ziemlich normal. Sie alle wussten, was mit diesem Satz gemeint war. Sie kannten die Geschichten aus dem Alten Testament, in denen sich Fremde als Engel entpuppten. Ich denke an Abraham und Lot... Eines Tages bekam Abraham, der Stammvater des Volkes Israel, Besuch von drei Männern. Wie es in der Antike üblich war– vor allem in der Wüste, wo Orte zum Ausruhen knapp sind – bewirtete Abraham die drei Männer. Er fragte sie nicht einmal, wer sie sind. Er ließ Brot backen, schlachtete ein Kalb, bot ihnen seinen Platz im Zelt an. Und das war gut so. Denn die drei Männer waren, so erfahren wir später in der Geschichte, niemand anderes als Boten von Gott, oder sogar Gott selbst. Der brachte Abraham eine wahrlich gute Botschaft: Der bisher kinderlose Abraham soll einen Sohn bekommen. Dabei hatte Abraham die Hoffnung schon aufgegeben: Seine Frau war aus dem Alter, Kinder zu bekommen, schon lange hinaus! Die Fremden, die da gekommen waren, waren Segensbringer, sie waren Engel. Was wäre Abraham entgangen, hätte er sie weggeschickt? Oder auch nur in einem Nebenzelt unter Bewachung bei Wasser und Brot notdürftig versorgt, in der Hoffnung, dass sie bald wieder gehen! So aber kam er in den Genuss eines unverhofften Segens, mit dem er wahrlich nicht mehr gerechnet hatte! Und noch eine Geschichte von Gastfreundschaft steht hinter unserem Predigttext: Der Neffe von Abraham, Lot, wohnt in der reichen Stadt Sodom, der Nachbarstadt von Gomorrha, beide am Toten Meer gelegen. Die hatte einen schlechten Ruf, so schlecht, dass Gott beschließt, die Stadt zu vernichten. Gott weiht Abraham in seine Pläne ein, der aber erschrickt darüber und verhandelt solange mit Gott bis der sich schließlich auf einen Deal einlässt: Wenn es auch nur 10 Menschen gibt, die nicht verroht, habgierig und gewalttätig sind, dann soll die Stadt überleben! Gott sendet also zwei Engel, die das auskundschaften sollen. Sie wenden sich an Lot. Sie wollen im Freien übernachten, aber Lot nötigt sie, bei ihm einzukehren, obwohl auch er nicht wusste, mit wem er es zu tun hat. Doch in der Nacht rottet sich eine Menschenmenge vor Lots Haus zusammen und fordert ihn auf, die Fremden herauszugeben, damit sie ihnen, wie Luther etwas schamhaft übersetzt, „beiwohnen“ können. Man mag sich gar nicht ausmalen, was damit gemeint ist: Vergewaltigung. Lot bietet seine eigenen Töchter an, nur um die Fremden zu schützen, so weit geht seine Gastfreundschaft. Aber es nützt nichts. Der Mob versucht, seine Türe aufzubrechen, doch das gelingt nicht, und so geht es halbwegs glimpflich aus. Am Ende wird dann auch noch Lot bedroht, weil er als Fremder die Fremden schützt, die Luft ist voller Gewalt und Tod. Die Gäste fordern Lot nun auf, sich in Sicherheit zu bringen: Die Bedingungen, die Abraham gestellt hat, sind nicht erfüllt. Die Stadt wird vernichtet, und für ihren Fremdenhass ist sie bis heute sprichwörtlich: Sodom und Gomorrha. Lot wusste nicht, dass er Engel beherbergt, aber das Gastrecht war ihm trotzdem heilig. Und das war seine Rettung. Vor allem die Geschichte von Lot finde ich verstörend und ich kann und mag mir gar nicht vorstellen, wie sich dessen Töchter gefühlt haben, als ihr Vater sie den Peinigern preisgeben wollte. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es in Gottes Sinn ist, die Gastfreundschaft über alles zu stellen, koste es, was es wolle. Aber die Geschichten zeigen, welch hohen Stellenwert die Gastfreundschaft in der Geschichte Gottes mit den Menschen hat. Auch Jesus selbst ermahnt immer wieder zur Gastfreundschaft, immerhin beginnt seine Geschichte auf der Erde ja gerade mit einem Mangel an Gastfreundschaft. Niemand will für seine Geburt eine Herberge bereitstellen. Umso bemerkenswerter ist es, wenn er im Matthäusevangelium sagt: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“ und als die Menschen fragen „Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen?“ sagt er: … Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan?“ Ja, liebe Gemeinde: So wie wir andere behandeln, behandeln wir Gott. Und Gastfreundschaft hängt demnach unmittelbar mit Nächstenliebe zusammen.. Und sie beschränkt sich nicht auf Freunde, Bekannte und Verwandte. Im Gegenteil. Sie nimmt sogar ganz ausdrücklich den Fremden in den Blick. Das Wort, das im griechischen Urtext unseres Predigttextes steht, lautet „Xenophilia“ – also die Freundlichkeit und Liebe gegenüber Fremden und damit das Gegenteil von Xenophobie. Wenn uns der Predigttext also auffordert, gastfrei zu sein, dann geht es hier wohl nicht nur um Reise- und Übernachtungsmöglichkeiten, reich gedeckte Tische und guten Wein. Es geht vor allem auch darum, dem anderen mit Respekt und Achtung zu begegnen, egal ob sie oder er zu meiner Peer Group, zu meinem Bekanntenkreis zählen, oder nicht. Gastfrei zu sein, bedeutet, dass jede und jeder - so wie Lot- Verantwortung für andere übernimmt, auch wenn das manchmal bedeutet, dass wir verzichten. Dass wir die anderen lieber nicht besuchen, dass wir sie nicht küssen oder mit ihnen das Mal oder die Sangriaflasche teilen, um sie und uns zu schützen. Auf Instagram habe ich die Frage gestellt, was wir heute unter Gastfreundschaft verstehen und dort hat mir jemand geschrieben: „Gastfreundschaft bedeutet Herzenswärme, Willkommen Heißen, Lächeln, Aufmerksamkeit und Dankbarkeit“. Gastfreundschaft bedeute „Gute Gespräche, Offenheit und die Bereitschaft, sich durch andere bereichern zu lassen“, meinte eine andere. Es bedeute, „andere an unserem Leben teilhaben zu lassen“ und „auch mal neue Leute kennenzulernen“. Und ein Mitglied unserer Gemeinde hat geschrieben, Gastfreundschaft bedeutet: Teilen, Lernen und sein Herz öffnen. Ja, liebe Gemeinde, all das, so Vieles, ist Gastfreundschaft. Und all das können wir tun – trotz Corona. Also: Vergesst nicht, gastfrei im Sinne von offen und aufmerksam zu sein, denn ihr könntet Engeln, ihr könntet Gott selbst begegnen. Und liebe Gemeinde - wenn diese merkwürdige Zeit hoffentlich irgendwann vorüber ist und spätestens wenn ein Impfstoff gefunden wurde, dann freue ich mich darauf, wenn Gastfreundschaft eben auch wieder heißt: ganz normal Abendmahl feiern, mit Gemeinschaftskelch und Friedensgruß und anschließend Hannelores wunderbaren Kirschkuchen im Raum der Begegnung essen. Das wünsche ich uns allen AMEN
  • VON DER FREIHEIT (Predigt am Reformationstag 2021)
    Gal 5,1-6 Er ist der bekannteste Wissenschaftler der Neuzeit. Und er wäre es rückwirkend gerne NICHT gewesen. Albert Einstein wurde einmal gefragt, was er rückblickend anders machen würde. Da soll er gesagt haben: „Stünde ich erneut vor der Entscheidung über den besten Weg, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, so würde ich nicht Wissenschaftler, Gelehrter oder Pädagoge werden. Sondern Klempner (also Installateur) oder Hausierer. in der Hoffnung, mir damit jenes bescheidene Maß von Unabhängigkeit zu sichern, das unter den heutigen Verhältnissen noch erreichbar ist.“ Unabhängigkeit, Freiheit – waren für Albert Einstein erstrebenswerter als Ruhm und Erfolg. Unfrei fühlte er sich durch die Verquickung, ja die Vereinnahmung seiner geliebten Wissenschaft durch die Politik. Einsteins Aussage löste einige Nachwehen aus. Ihm wurde nicht nur die Ehrenmitgliedschaft der Installateurgewerkschaft verliehen. Einstein trat vor allem auch eine heftige Diskussion über die Freiheit los. Wenn dieser geniale, geistig unabhängige Wissenschaftler zu solchen Urteilen kam, wie frei konnte man seinerzeit überhaupt denken, leben und arbeiten?! Und wie frei können WIR das? Heute? Liebe Gemeinde, ganz ehrlich: Wie frei sind Sie? In Ihrem Handeln? In Ihrem Denken? In Ihrem Verhalten? Sind Sie frei, über sich selbst zu bestimmen und ihr persönliches Leben frei zu gestalten? Ich nicht. Auch wenn ich viele Freiheiten habe, gibt es natürlich Rahmenbedingungen, die mein Tun und Lassen begrenzen. Ich habe Verpflichtungen. Meiner Familie gegenüber. Ihnen gegenüber. Ich bin diese Verpflichtungen aus freien Stücken eingegangen. Und doch begrenzen sie mich in meiner Freiheit. Es gibt gesellschaftlichen Druck und Erwartungen, die meine Freiheit begrenzen. Der Druck, etwas aus seinem Leben machen, etwas leisten zu müssen. Ja, durchaus auch der Druck, erfolgreich zu sein und etwas zum Allgemeinwohl beizutragen. Es gibt die Erwartungen, die an mich als Frau gestellt werden, als Mutter, als Pfarrerin. Und dann gibt es die Erwartungen, die ich selbst an mich habe, die sind vielleicht die schwierigsten. Und trotzdem habe ich, haben wir natürlich heute ungleich höhere persönliche Freiheiten, als sie Albert Einstein in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hatte. Das hängt (zum Teil) daran, dass wir in einem Raum politisch-gesellschaftlicher Freiheit leben. Auch wenn manche etwas anderes behaupten – verbürgt die Demokratie, die rechtsstaatlich-demokratische Verfassung unsere Freiheiten. Und dann haben wir im Vergleich zu früheren Generationen auch eine viel größere Freiheit, unser Leben individuell zu gestalten. Weil allgemeinverbindliche Anschauungen und Traditionen zurückgetreten sind. Im Vergleich zu früher gibt es viel weniger feste Vorgaben und Maßstäbe für das, was die Einzelnen tun und wie sie sich verhalten sollen. Nicht alle finden das gut. Freiheit kann überfordern. Freiheit kann auch beängstigen. Freiheit kann auch frustrieren. Denn Freiheit kann nämlich auch bedeuten, dass Verlässlichkeit und Sicherheit verloren gehen. Wie oft führe ich Gespräche mit Menschen, die mir erklären, dass früher so vieles besser war. Zur Zeit der Peter Alexander-Filme etwa, da war die Welt noch überschaubarer, die Möglichkeiten begrenzter und die Kirchen waren voll. Ja, leere Kirchen sind so eine Folge der Freiheit. Wir hier in der Stadtkirche haben das Glück, dass sich doch immer wieder so viele von Ihnen freiwillig entscheiden, hier her zu kommen. Darüber freue ich mich von Herzen. Aber viele Kirchen, gerade in der Stadt, sind auch am Sonntagmorgen gähnend leer. Ein Grund dafür ist bei Martin Luther zu suchen. Er schaffte nämlich die Gottesdienstpflicht ab. Zu Luthers Zeit war klar: Wer nicht in die Sonntagsmesse geht, verwirkt seine Chance aufs ewige Leben im Paradies. Dementsprechend voll waren die Kirchen. Dagegen schrieb Luther im Jahr 1523 an und meinte, es sei wichtig, dass die Gemeinde den Gottesdienst „frey,“ feiern sollte – „nicht aus zwang oder Unlust, nicht umb lohn zeytlich noch ewig, sondern alleyne gott zu ehren, den nehisten zu nutz zu thun.“ Wer sich also heute über leere Kirchen beschwert, weiß, wo er einen der Mit-Verursacher findet. Freiheit hat so ihre unerwünschten Nebenwirkungen und Freiheit hat ihre unbequemen Seiten. Wie schwer sich manche Menschen mit der Freiheit tun, weil sie eben auch manchmal schwer zu ertragen ist, erzählt schon die Bibel. Damals, als Mose die Israeliten aus der Sklaverei befreit und sie aus Ägypten in Richtung gelobtes Land geführt hat, da mussten die Israeliten schmerzhaft erkennen, dass die Freiheit nicht nur süß schmeckt. Dass dort Gefahren lauern, Hunger, Hitze und Tod. Und da fingen sie an zu raunzen und zu schimpfen. Sie machten Mose für ihr Schicksal verantwortlich und sagten: ach hättest du uns nur in der Sklaverei gelassen, in Ägypten waren wenigstens die Fleischtöpfe gefüllt. Ähnlich ist es im heutigen Predigttext. Auch da wollen einige hinter ihre neu gewonnene Freiheit zurück. Da vertrauen einige nicht wirklich darauf, dass Jesus uns tatsächlich frei gemacht hat. Sie lassen sich einreden, dass es wichtig sei, bestimmte Ritualgesetze einzuhalten – Beschneidung oder Speisevorschriften, um ein gottgefälliges Leben zu führen. Und das erzürnt Paulus dermaßen, dass er seinem Ärger in einem Brief Luft machen muss. Hören Sie, was er an die Gemeinde in Galatien schrieb: 51Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! 2Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. Gott segne unser Reden und Hören! „Zur Freiheit hat Christus uns befreit!“ Liebe Gemeinde, in diesem wunderbaren Satz liegt das Zentrum der Reformation, die wir heute feiern. Die Freiheit des Menschen begründet sich für Paulus einzig und allein darin, dass Gott ihn frei spricht. Ohne jedes Zutun und jede noch so fromm gemeinte Vorleistung sind wir frei und sollen frei sein. 1500 Jahre nach Paulus entdeckt Martin Luther diese Freiheit wieder. Im Jahr 1520, also drei Jahre nach seinem berühmten Thesenanschlag, veröffentlicht er ein Büchlein über die Freiheit und schreibt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“ Vielleicht können Sie erahnen, was für eine ungeheure Provokation das war. Denn so wie wir heute nicht völlig frei sind, so wie Albert Einstein nicht völlig frei war, waren zu Luthers Zeiten die allerwenigsten Menschen irgendwie frei. Von der Gottesdienstpflicht haben wir schon gehört, aber darüberhinaus war das ganze Leben der meisten Menschen von Unfreiheit geprägt. Ich denke an das Lehnswesen, die starren Rollensysteme, die nicht vorhandene Unabhängigkeit der Justiz. Zu behaupten, ein Christ sei frei, sei niemandes untertan, war freilich etwas absurd. Aber Luther meinte es ernst. Ohne Furcht, das habe ich eingangs schon erwähnt, stellte er sich allen Autoritäten seiner Zeit entgegen, religiösen ebenso wie weltlichen. Er berief sich dabei einzig und allein auf Christus und das in der Bibel überlieferte Zeugnis. Paulus wird ihm dabei zum Kronzeugen: „Zur Freiheit hat Christus uns befreit!“ Der Preis dieses Freiheitsverständnisses war für viele hoch. Nicht nur, dass Mönche und Nonnen scharenweise ihren Klöstern entliefen. Auch die armen Bauern beriefen sich auf Luthers Freiheit, als sie mit Spießen und Schwertern gegen ihre Herren marschierten. Thomas Münzer und der so genannte linke Flügel der Reformation trat mit Gewalt alles unter seine Füße, was sich dem Bild einer neuen, freien Gesellschaftsordnung entgegenstellte. Im Namen der Freiheit floss viel Blut in jenen Tagen. Natürlich war das niemals Luthers Intention gewesen. Ein solches Freiheitsverständnis konnte unmöglich richtig sein. Daher ist es unverzichtbar, aus Luthers Freiheitsschrift auch den zweiten zentralen Satz zu zitieren. Da steht nämlich neben: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“, die Ergänzung: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Liebe Gemeinde: Ein Christ ist jedem untertan. Was im Althochdeutsch des Martin Luther kompliziert klingt, könnte man auch einfach mit den zwei Schlagworten des Reformationsjahres umschreiben: Freiheit und Verantwortung. Wir sind frei – ja. Aber zur Freiheit gehört immer Verantwortung und diese Verantwortung begrenzt die persönliche Freiheit auf ganz natürliche Weise. Zur Freiheit gehört eben immer, auch die Freiheit und Würde anderer zu achten. Niemand ist frei, so lange es nicht alle sind. So war das damals und so ist es heute. Freiheit kann ich nicht individuell nur für mich beanspruchen. Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen beschnitten wird. Und sie muss für alle gelten: Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit. Die Versuchung, die eigene Freiheit verantwortungslos zu leben und sie über das Gemeinwohl zu stellen, ist hoch. Das erleben wir derzeit in der Pandemie rund um die Impfdebatte immer wieder. Ebenso hoch ist auch die Versuchung, die gewonnene Freiheit aus Bequemlichkeit, aus Unsicherheit oder aus dem Wunsch nach Kontrolle und Sicherheit heraus aufzugeben. Das erleben wir immer dann, wenn Menschen nach schärferen Gesetzen rufen, nach härteren Sanktionen und geschlosseneren Grenzen. Ja: Freiheit hat viele Versuchungen. Und Freiheit hat ihren Preis. Und doch ist sie Teil unserer evangelischen DNA. Und das ist gut so. Denn das evangelische Freiheitsverständnis hat die Kraft, unser Zusammenleben nicht nur innerhalb unserer Kirche, sondern in unserer gesamten Gesellschaft zu verändern und gemeinwohlorientiert zu gestalten. Liebe Gemeinde: „Zur Freiheit hat Christus uns befreit!“ Das ist die Botschaft dieses Tages. Und Gott mehr zu gehorchen als den Menschen – das ist Ausdruck dieser evangelischer Freiheit. Wenn Sie heute diese Kirche verlassen, dann fragen Sie sich doch, ob und wo Sie diese Freiheit leben und wo nicht. Wo sind Sie unfrei und müssten es nicht sein? Und wo leben Sie ihre Freiheit unangemessen und auf Kosten anderer? Freiheit zu leben und vorzuleben ist unsere Aufgabe. Und die ist heute nicht weniger wichtig als zu Zeiten von Paulus oder Luther. Diese Aufgabe wird auch niemals aufhören. Und sie wird immer herausfordernd bleiben. So wie Reformation nie vorbei ist, uns bis heute fordert und morgen noch fordern wird. Amen Und der Friede Gottes.... (Einstieg entnommen aus einer Predigt von Andreas von Maltzahn / Nordkirche)
  • Vom Christkind
    Predigt am 12.12.21 1. Kor 4,1-5 3. Advent KEIN RECHT ZUM RICHTEN Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden. Mir aber ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir zwar keiner Schuld bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und das Trachten der Herzen offenbar machen wird. Dann wird auch einem jeden von Gott Lob zuteilwerden. Gott segne Reden und Hören Liebe Gemeinde, es war für mich diese Woche nicht so leicht, zu entscheiden, worüber ich predige. Über welchen Aspekt dieses bemerkenswerten Briefes. Zwei Assoziationen sind mir da sofort in den Sinn gekommen und ich sage Ihnen zunächst, worüber ich NICHT predige. Es steht in dem Brief: „Darum richtet nicht, vor der Zeit, bis der Herr kommt, der ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und das Trachten der Herzen offenbar machen wird.“ Liebe Gemeinde: Darum richtet nicht. Das ist eine so wesentliche Botschaft in Corona-Zeiten, in denen sich jeder irgendwie im Recht fühlt. In denen es so viele Gewissheiten und so viele Richter gibt. 45.000 Menschen waren gestern auf der Straße und fühlten sich absolut in ihrem Recht. Und Millionen Stillschweigende haben sich das Ganze in der Zib angeschaut und gedacht: Denen ist auch nicht mehr zu helfen. Wir richten. Wir alle. Die ganze Zeit. Jeder über jeden. Und jeder fühlt sich im Recht. Es wäre also nahezu aufgelegt, heute ausführlich über Corona und übers Richten zu predigen. Und darüber, dass man das nicht soll. Dass man sich stattdessen eingestehen sollte, dass man die Weisheit auch nicht immer mit Löffeln gegessen hat. Dass man, wie jeder Mensch auch fehlbar ist. Dass nur Gott unsere Motive kennt. Darüber hätte ich predigen können. Aber ich habe mich dagegen entschieden. Ich habe das Gefühl, dass Corona, Impfung und Lockdown ohnehin schon viel zu viel Platz einnimmt. Es gibt kaum ein anderes Thema in Arbeit, Freundeskreisen und Familien. Aber neben Corona haben wir eben auch noch ein anderes Thema. Wir haben Advent. In 12 Tagen feiern wir Weihnachten. Daher habe ich mich entschlossen über den anderen so spannenden Aspekt des Predigttextes zu sprechen. Über das Geheimnis. Das Mysterium. Wir sind „Haushalter über Gottes Geheimnisse“ heißt es im Predigttext. Geheimnisse. Solche Geheimnisse begegnen uns in der Adventszeit, in dieser mysthischen Zeit ja besonders oft. Zum Beispiel in Form des Christkinds. Glauben Sie an das Christkind? Ich selbst komme ja aus Nürnberg – der Hochburg des Christkindes. Nürnberg ist weltweit berühmt für seinen Christkindlesmarkt. Jahr für Jahr strömen Unmassen an Menschen dorthin, um Weihnachtsstimmung zu erleben und sich ein bisschen verzaubern zu lassen. Vom Christkind. Christkind sein ist ein Ehrenamt. Und eine große Ehre. Jahr für Jahr wird ein Mädchen zwischen 16 und 19 Jahren in einem längeren Auswahlprozess in mehreren Medien und vor einer Jury ausgewählt. Am Freitag vor dem ersten Advent hat es dann seinen ersten großen Auftritt. Pünktlich um 17.30 Uhr erlöschen in der Altstadt rund um den Nürnberger Hauptmarkt die Lichter. Dann halten Tausende von Menschen in gespannter Erwartung den Atem an, und alle Augen richten sich auf die Empore oben an der Frauenkirche. Dort erscheint das Christkind und eröffnet den Markt mit einem Prolog. Es ist Jahr für Jahr der gleiche. Und am Schluss heißt es da: Ihr Herrn und Fraun, die ihr einst Kinder wart, Seid es heut‘ wieder, freut euch in ihrer Art. Das Christkind lädt zu seinem Markte ein, Und wer da kommt, der soll willkommen sein. Das Christkind heißt alle Willkommen. Es richtet sich nicht nur an Kinder, sondern auch – oder gerade auch an Erwachsene. Es fordert die Erwachsenen auf, wieder Kind zu sein. Sich kindlich zu freuen. Am Adventszauber und an dieser besonders mystischen Zeit. Für mich ist die Adventszeit bis heute tatsächlich eine magische Zeit geblieben. Und das Christkind hat einen festen Platz in meinem Herzen, nicht weil es Geschenke bringt, sondern weil es ein Stück Kindheitserinnerung ist. Wissen Sie eigentlich, auf wen das Christkind zurückgeht? Warum kommt heutzutage in Österreich das Christkind und nicht der Weihnachtsmann? Das hat mit Martin Luther zu tun. Vor Luther war der 6. Dezember der große Geschenketag, da hat der heilige Nikolaus, der Freund der Kinder, Gaben gebracht. Aber Luther war die Verehrung von Heiligen und insbesondere die kindliche Vergöttlichung des Nikolaus ein Dorn im Auge, deshalb legte er den Fokus auf das Christfest und auf das Christuskind. Ab dann brachte das Christkind die Gaben. Bei uns zu Hause – in meiner Familie - hat das Christkind nie die Geschenke gebracht, aber es war und ist ein fixer Bestandteil des Advents. Das Christkind ist einer dieser Schlüssel in diese magische Welt, von der ich neulich, am Ewigkeitssonntag, schon gepredigt habe. Diese magische, mystische Welt, dieses Unerklärliche, das so unbedingt zu unserem Glauben dazugehört. Zum Anfang und zum Ende. Die Fähigkeit, an nicht sichtbare Dinge glauben zu können, ist ein wertvolles Geschenk. Eines, das wir auch als Erwachsene bewahren sollen. Jesus selbst fordert uns ja auf, wie die Kinder zu werden. Und er sagt: Wer das Reich Gottes nicht empfängt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und liebe Gemeinde, es ist doch so, dass vieles an unserem Glauben tatsächlich nicht erklärbar ist. Vieles ist und bleibt ein Mysterium, so wie es im Predigttext steht. Die Tatsache, dass Gott geboren wird, obwohl er doch schon immer da war. Dass er ein Baby in die Welt schickt, um die Menschen zu befreien. Dass er Wunder tut und damit unsere Vorstellung von dieser geregelten Welt durchbricht. Dass er sich als Gottes Sohn von Menschen kreuzigen lässt. Dass ein Toter wieder aufersteht und damit dem Tod die Macht entreißt. Das alles ist nicht logisch erklärbar. Es ist und bleibt ein Mysterium. Und das ist das Besondere an unserem Glauben. Dass er offen ist für etwas, was wir nicht so einfach beschreiben können. Für diese andere Welt, die für uns unsichtbar und oft fremd ist. Ich halte dieses Offen sein für das Mysthische und Nichterklärbare, diese Bereitschaft, Ungewissheit auszuhalten und auch in der dunkelsten Ausweglosigkeit die Hoffnung nicht aufzugeben, für eine unserer größten Stärken. Für ein Gnadengeschenk. Und zugleich ist es vielleicht einer der größten Schwachpunkte. Erst kürzlich hat der Profil-Chefredakteur sinngemäß gesagt, dass für ihn Verschwörungstheorien und Wissenschaftsfeindlichkeit ala: durch die Impfung verwandeln sich alle in Zombies in eine ähnliche Kategorie fallen, wie die unbefleckte Empfängnis, die Auferstehung oder das Christkind. Und auf meinem Instagram-Account hat mir jemand geschrieben, dass er aus der Kirche ausgetreten ist, weil es die Kirche mit ihrem Hang zum Übernatürlichen und Mysthischen erst möglich macht, dass Menschen an absurde Dinge glauben, wie eine kollektive Vernichtung der Menschheit durch einen Impfstoff. Ich gestehe, solche Vorwürfe machen mich betroffen. Und in solchen Momenten finde ich es auch manchmal schwer, Gott die Treue zu halten, so wie es im Predigttext heißt. Oft hätte ich gern Beweise zur Hand, stichhaltige Fakten, mit denen sich unser Glaube glasklar belegen lässt. Oft fällt es mir schwer, für all das Geheimnisvolle in unserem Glauben als Naivling belächelt zu werden. So wie die Großen Geschwister die Kleinen belächeln, weil die immer noch ans Christkind glauben. Manchmal erscheint es vernünftiger und ist es vielleicht auch leichter, NICHT zu glauben. Der Dichter Kurt Marti hat diese Gedanken in treffende Worte gefasst: glücklich, ihr Atheisten! ihr habt es leichter euch wirbelt kein gott aus der bahn des schlüssigen denkens kein glaube wirft schatten auf eure taghelle logik nie stolpert ihr über bizarre widersprüche kein jenseits vernebelt euch die konturen der welt nie seid ihr berauscht von heiligen hymnen und riten nie schreit ihr vergeblich nach einem göttlichen wunder oder stürzt ab ins dunkel blasphemischen betens – glücklich ihr atheisten! gern wäre ich einer von euch jedoch, jedoch: ich kann nicht Ja, leichter wäre es wohl, NICHT damit zu rechnen, dass Gott kommt. Es wäre unkomplizierter, mit dem kindlichen Glauben ans blondgelockte Christkind auch jegliche Bereitschaft für das Mysthische abzulegen und sich einzig auf das, was Welt und Menschen uns sagen, zu verlassen. Jedoch, jedoch, sagt Marti am Ende: für mich ist es leider nicht so leicht. Ja, liebe Gemeinde. Auch die Erfahrung teile ich. Denn Gott lässt mich einfach nicht in Ruhe. Er lässt sich nicht einfach abschütteln! Und unser Glaube schwebt ja auch nicht völlig frei in der Luft. Er ist eben kein akutes Glaubenskonstrukt von Menschen, die gerne die Kontrolle über ihr Leben haben. Menschen, die Ungewissheit nicht aushalten und daher alles mit für sie logischen und dennoch abstrusen Theorien erklären wollen. Im Gegenteil. Wir stützen uns mit unserem Glauben und Hoffen auf das, was Menschen seit Jahrtausendenerfahren und weitererzählt haben. Auf das, was wir hier bis heute in der Kirche immer wieder neu erzählen: dass Gott diese Welt liebt, sich um sie sorgt, es gut mit ihr und ihren Menschen meint und mehr mit ihr vorhat. Ist Glaube naiv? Nein. Ebenso wenig wie die Liebe oder Hoffnung. Ist der Glaube ans Christkind naiv? Nein. Denn er beruht ja auf einem wahren Kern. Das Christkind gibt es – es kam vor 2000 Jahren in einer Notunterkunft zur Welt. Nicht als blondgelockter Engel, sondern als orientalisch-jüdisches Baby in einer Krippe. Als ein Kind, das das Gute in die Welt gebracht hat. Und die Liebe. Und die Hoffnung. Dieses Ereignis feiern wir am 24. Dezember. Darauf warten wir im Advent. Wir feiern quasi vier Wochen lang das Warten, das Ungewiss-Sein, das Noch-Nicht-Sein: die Hoffnung auf ein Happy End. Mit Adventskranz, mit vertrauten Liedern und mit ein wenig Geheimnisvollem. Genau das ist Advent. Der hofft trotz aller Hoffnungslosigkeit, der vertraut trotz aller Enttäuschungen, der glaubt allen Zweifeln zum Trotz. Der folgt einem Stern und traut einem Wort. Der sieht ein Kind in der Krippe, in einem erbärmlichen Stall – und fällt auf die Knie, um es anzubeten. Der fragt nach dem Sinn, der sucht das Mehr, der findet Gott. Amen Und der Friede Gottes...
  • REFORMATIONSTAG: Luthers Kairos
    Kairos Der tag war da: so stand der stern. Weit tat das tor sich dir dem herrn ... Der heut nicht kam bleib immer fern! Er war nur herr durch diesen stern. So, liebe Gemeinde, beschreibt der Dichter Stefan George den Kairos. Also jenen Moment, jenen günstigen Moment, den man nicht erzwingen und nicht planen kann. Jenen richtigen Zeitpunkt, der sich auf einmal auftut und den man nicht vorbeiziehen lassen darf, denn er kommt vielleicht nie wieder. Kairos ist DER Augenblick, an dem alles zusammenpasst. An dem plötzlich so vieles möglich ist, was vorher undenkbar war. An dem – so glauben wir Christinnen und Christen es – der Heilige Geist selbst am Werk ist. In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder solche Kairos-Momente und zum Glück gab es immer auch Menschen, die sie erkannt und ergriffen haben. Zum Beispiel vor 240 Jahren - als die Gründungsväter unserer Gemeinde im März 1783 die einzigartige Chance nutzten, dieses Gebäude hier sowie sieben weitere Zimmer eines ehemaligen Königinnenklosters zu ersteigern. Dass hier mitten in der Stadt, im Zentrum einer römisch-katholischen Hochburg einmal so große evangelische Gottesdienste gefeiert würden und dass eine Klosterkirche, in der einst die Gebeine und Herzen mehrerer Habsburger lagen, einmal die evangelische Bischofskirche sein würde, das hätte sich vor dem Jahr 1783 wahrlich niemand träumen lassen. Träumen lassen, was alles möglich ist und was er alles ins Rollen bringen würde, hätte sich zweieinhalb Jahrhunderte vorher wohl auch Martin Luther nicht, als er seine 95 Thesen veröffentlichte. Rückblickend war der 31. Oktober 1517 wohl ebenfalls so ein Kairos. Auf den ersten Blick war es aber ein gewöhnlicher Mittwochabend. Während sich die klerikale Welt auf den anstehenden Feiertag, den Allerheiligentag, vorbereitete, nutzte der Augustinermönch Martin Luther die Ruhe vor dem Sturm, um seine Streitschrift gegen den Missbrauch von Ablass und Fegefeuer zu veröffentlichen. Dass man sich damals gegen Bares von seinen Sünden freikaufen konnte, dass Geistliche mit der Angst der Menschen vor dem Fegefeuer spielten und den Armen das Geld aus der Tasche zogen, um selbst in Saus und Braus zu leben - das alles war Luther schon lange ein Dorn im Auge. Also wollte er darüber reden. Er wollte einen innerkirchlichen Diskurs zu diesem Thema anstoßen. Einen Disput unter Gelehrten, deshalb veröffentlichte er seine Thesen auch auf Latein. Was da heute vor 506 Jahren in Wittenberg seinen Ausgang nahm, hätte also eigentlich eine rein innerkirchliche Angelegenheit sein sollen. Aber offenbar war es der rechte Augenblick, der Kairos, um etwas Größeres ins Rollen zu bringen. Etwas, das sich nicht mehr aufhalten ließ. Denn Luthers Thesen trafen den Nerv der Zeit. Sie gingen viral, so würde man das heute sagen. Sie wurden von anderen ins Deutsche übersetzt, verschickt, wiedergedruckt und so oft weiterverbreitet, dass sie irgendwann auch bei Kaiser und Papst landeten. Und davon war auch Luther völlig überrumpelt und überrollt. Wenige Monate nach dem Thesenanschlag schrieb Luther an einen Bekannten: „Es war weder die Absicht, noch mein Wunsch, sie (die Thesen), zu verbreiten. Sondern sie sollten mit wenigen, die bei und um uns wohnen, zunächst disputiert werden, damit sie nach dem Urteil vieler entweder verworfen und abgetan oder gebilligt und herausgegeben würden. Aber jetzt werden sie weit über meine Erwartung so oft gedruckt und herumgebracht, dass mich dieses Erzeugnis reut“, so schrieb es Luther im März 1518. Was ihn reute, war nicht der Inhalt, sondern vielmehr die Art und Weise, wie er seine Ansichten zu Papier gebracht hatte. Hätte er sie fürs ganze Volk geschrieben, hätte er sie anders geplant. Vermutlich pointierter. Kürzer und klarer. Er hätte sie selbstverständlich auf Deutsch verfasst. Aber es war anders gekommen. Seine Thesen waren im Umlauf, das Feuer der Reformation war entfacht und Luther selbst fand sich plötzlich in der Rolle des Protestanten wieder. Eine Rolle, in die er immer mehr hineinwuchs. War Luther im Oktober 1517 noch ein von ganzem Herzen papsttreuer Anhänger der römischen Kirche, distanziert er sich in den kommenden Monaten mehr und mehr vom Papsttum. Seine Aussagen werden schärfer, seine Schriften wurden angriffiger. Innerhalb kürzester Zeit avanciert Luther vom Theologieprofessor einer kleinen Universität zum Bestsellerautor und Medienstar. In immer neuen Disputationen mit Kirchenvertretern seiner Zeit beharrt Luther auf seinem Standpunkt und fordert die Reformierung der sittenverderbten Institution Kirche. Niemand aus dem päpstlichen Lager weiß ihm sachlich beizukommen und mutig wehrt Luther alle Drohungen aus Rom ab, die ihn zum Widerruf auffordern. Schließlich verliert der Papst die Geduld. Zweieinhalb Jahre nach dem sogenannten Thesenanschlag – im Sommer 1520 - stellte Papst Leo 10. dem aufsässigen Reformator ein letztes Ultimatum: Widerruf oder Exkommunikation. Ob die Reformation zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch aufzuhalten gewesen wäre, lässt sich rückblickend natürlich schwer sagen. Luther jedenfalls ist nicht mehr aufzuhalten. Unter johlendem Geschrei seiner Studenten verbrennt er das päpstliche Schreiben vor den Toren Wittenbergs auf dem Scheiterhaufen. Der Bruch mit Rom ist damit besiegelt. Der Papst exkommuniziert Luther und lässt seine Schriften öffentlich verbrennen. Luther und seine Anhänger sind damit offiziell Häretiker. Dieses Ende der Beziehung zu Rom war der Beginn von etwas ganz Neuem - der Beginn der evangelischen Kirche- Einer Kirche, deren Strömungen heute weit über den deutschsprachigen Raum hinausgehen. Vielleicht hätte es auch ohne Luther eine Reformation gegeben. Schließlich gab es auch noch etliche andere reformatorische Zeitgenossen und vor allem frühere Wegbereiter (wie Jan Hus). Klar ist aber, dass die Reformation und damit unsere westliche Welt ohne Luther und ohne Luthers Kairos im Oktober 1517, ---- anders aussehen würde. Das protestantische Gedankengut von Glaubens- und Gewissensfreiheit, von der Gleichheit der Menschen vor Gott und von der Gnade, die Gott uns völlig unverdient geschenkt hat – all das hat das Denken und Wirken vieler Menschen geprägt und damit unsere Geschichte und Kultur geformt. Viele große Persönlichkeiten haben das, was sie hervorgebracht und der Welt hinterlassen haben, aus einem protestantischen Verständnis heraus getan. Denken Sie an Lessing, Goethe, Schiller oder Mann. Berthold Brecht nannte die Lutherbibel das für ihn wichtigste Buch. Auch Kant, Fichte, Schelling oder Hegel waren Produkte einer evangelischen Kultur! Oder denken Sie an Bach- ohne seinen protestantischen Hintergrund wäre das Werk von Johann Sebastian Bach kaum zu verstehen. Auch in Österreich haben Protestanten aller Verfolgung und Unterdrückung zum Trotz ihre Spuren hinterlassen. Vor allem nach der Duldung der Protestanten unter Josef II und ihrer späteren Gleichstellung konnten sich Menschen wieder offen zu ihrem evangelischen Glauben bekennen oder gar zum Protestantismus konvertieren. Erinnert sei an Alma Mahler-Werfel, Otto Wagner, Theophil Hansen, Oskar Werner, Theodor Billroth oder den Vater der Verfassung Hans Kelsen. Hier in unserer Kirche getauft wurde Heimito von Doderer, der wurde dann allerdings katholisch - und vor ihrer Beisetzung aufgebahrt wurden hier in unserer Kirche Johannes Brahms und der Walzerkönig Johann Strauss Sohn. Sie alle haben ihre evangelischen Spuren hinterlassen und das Österreich, das wir heute kennen, geprägt. Insofern ist die Reformation kein einmaliges oder historisch abgeschlossenes Ereignis. Der Kairos der Reformation wirkt bis heute fort und er soll durch und in uns weiterwirken. In unsere Kirche - in unsere Gesellschaft hinein. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Reformation war, wie schon erwähnt, die Sola Gratia. Das Prinzip der Rechtfertigung allein aus Gnade. Und sie hat auch mehr als 500 Jahre später nichts an ihrer Aktualität und Relevanz verloren. Und sie besitzt noch immer die Kraft und den Zündstoff, um eine kranke Welt zu verändern. Allein aus Gnade ist der Gegenentwurf zum Leistungsprinzip. Wir sind es heute gewohnt, dass alles im Leben seinen Preis hat. Selbst der Tod kostet das Leben. Wir sind gewohnt, dass man Leistung bringen muss, um in der Gesellschaft zu bestehen und wer keine Leistung bringt, dem bleiben Erfolg und Anerkennung verwehrt. Wir sind gewohnt, uns zu vergleichen. Wer ist besser im Beruf, wer ist der bessere Vater, die bessere Großmutter, das bessere Kind. Und all das geht einher mit der Angst, vielleicht doch nicht gut genug zu sein. Vielleicht doch nicht genug geliebt zu werden. Vielleicht doch nicht anerkannt zu werden. Und vielleicht doch zu kurz zu kommen. Genau so ging es Luther damals. Das Deutschland des Mittelalters war eine religiöse Leistungsgesellschaft im Wetteifer um das Seelenheil und das ewige Leben. Martin Luther aber hatte erkannt, dass nicht einmal das beste Bemühen ausreicht, um von Gott vorbehaltlos anerkannt zu werden. Jeder Versuch, vor Gott zu bestehen und sich selbst zu rechtfertigen, war zum Scheitern verurteilt. Es war wie das vergebliche Jagen nach einem unerreichbaren fernen Ziel. Und Luther litt! Er hatte Angst, war verzweifelt, bis er – in einem Kairos - aus dem Neuen Testament heraus erkennen durfte, dass es all das gar nicht braucht. Dass Gott anders ist, als er all die Jahre gedacht hatte. Seine Gerechtigkeit ist anders. Gott liebt uns und er erwartet keine Leistung dafür. Im Gegenteil. So unbegreifbar das ist: Wir werden geliebt, voll und ganz unverdient. Die Angst, die Luther bis dahin jeden Tag im Nacken gesessen hatte, war verschwunden. Die Angst, nicht genug getan zu haben und deswegen nicht geliebt zu werden. Die Sehnsucht nach einer Rechtfertigung für das eigene Dasein war gestillt. Und liebe Gemeinde, ich bin sicher, wenn wir heute diese Erkenntnis genauso verinnerlichen würden, wie Luther es getan hat, dann würde es in dieser Welt viel weniger Neid geben. Viel weniger Konkurrenzdenken, weniger Abwertung, weniger Hass. Und es würde stattdessen viel mehr Mitmenschlichkeit geben, Zufriedenheit und Frieden. Denn wer das Prinzip der Rechtfertigung aus Gnade verinnerlicht hat, der weiß, dass er nicht immer perfekt sein muss. Nicht immer funktionieren muss. Die Gnade sagt Dir: Du darfst müde sein. Vergesslich. Schlecht gelaunt. Du musst nichts beweisen. Du musst nicht immer alles im Griff haben. Du darfst heulen, wenn dir danach ist. Du bist was wert, auch wenn du dir nicht viel leisten kannst. Ja, liebe Gemeinde, wer sola Gratia verinnerlicht, der braucht keine Angst mehr haben, zu kurz zu kommen. Der erkennt, dass er das Beste im Leben bereits umsonst bekommen hat. Ein anderer hat dafür bezahlt. Und wer das erkennt, der kann sich doch gar nicht mehr nur noch um sich selbst drehen! Wen Gott aus Gnade gerechtfertigt hat, den hungert vielmehr nach Gerechtigkeit in der Welt! Der protestiert gegen jedes Unrecht. Wem Gott Frieden in die Seele gibt, den dürstet nach Frieden auf Erden und der protestiert gegen den Unfrieden der Welt und wird damit seinem Namen als Protestanten gerecht. Und daher, liebe Schwestern und Brüder, wünsche ich uns allen 540 Jahren nach Luthers Geburt einen Kairos, in dem seine Erkenntnis auch unser Innerstes erreicht und uns zur Freiheit befreit. Und ich wünsche uns, dass die Reformation so immer weiter ihre Spuren und Kreise zieht. In uns und durch uns. Heute und in Ewigkeit. Amen Und der Friede Gottes...

Überschrift 1

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