Der Tag, vor dem sich Verena so lange gefürchtet hatte, war da.
Zum letzten Mal betrat sie ihr Elternhaus, um gemeinsam mit den neuen Eigentümern Zählerstände abzulesen, notwendige Dokumente zu unterzeichnen und Schlüssel zu übergeben.
Jeder Quadratmeter war ihr vertraut. Das metallene Gartentor, dem sie ihre feine Narbe auf der Stirn verdankt. Die verwitterten Überreste von Hamster Karlis Grabmal. Die knarrende Treppe hinauf zu ihrem Kinderzimmer. Hunderte Gute-Nacht-Küsse hatte sie hier bekommen. Mit ihrer ersten Barbie gespielt und später über den Hausaufgaben geschwitzt. Im Spiegel hinter der Tür hatte sie voll Stolz ihre erste Zahnlücke begutachtet und voll Ehrfurcht ihr erstes Ballkleid probiert. Es kam ihr vor, als läge das Glück ihrer Kindheit und Jugend – ihr ganzes Leben irgendwie in diesem Haus.
Trotzdem musste sie sich trennen. Verenas Vater ist seit sieben Jahren tot, ihre Mutter mit schwerer Demenz im Heim. Sie selbst lebt in der Großstadt. Das Elternhaus am Land zu halten, ging nicht mehr. Sie musste loslassen und konnte froh sein, Käufer gefunden zu haben. Und trotzdem zerriss es ihr in dem Moment das Herz.
Ich konnte Verena verstehen. Je älter ich werde, desto öfter meldet sich auch bei mir diese Sehnsucht nach „Zuhause“. Nach früher. Nach dieser Zeit, als die größten Probleme im Leben waren: Wann verliere ich meinen ersten Zahn, wie bekomme ich den Filz aus den Barbiehaaren, sitzt das Ballkleid richtig?
Zumindest war es im Rückblick so. Als ich neulich mit meiner Mutter über diese Sehnsucht sprach meinte sie: „Früher wolltest du immer nur groß sein und ausziehen.“
Tja, so ist das wohl mit der Nostalgie. Im Rückblick ist immer alles doppelt so schön und halb so wild. Einfach weil es vorbei ist. Wie bei so Vielem entdecken wir den Wert des Seins oft erst im Rückspiegel.
Das ist menschlich. Und vielleicht gar nicht mal schlecht: Nostalgie kann ein hilfreicher Anker in Umbruchszeiten sein. Sie hilft uns bei Einsamkeit und Unsicherheit. Schwierig wird es nur dann, wenn uns die verklärte Vergangenheit daran hindert nach vorne zu gehen. Wenn sich hinter dem Festhalten an der Kindheit die Angst verbirgt vor dem, was kommt.
Verena hat Angst. Vor dem, was kommt. Davor, ihre Wurzeln zu verlieren. Und trotzdem hat sie losgelassen. Im Vertrauen darauf, dass ihre Wurzeln nicht an einen Ort gebunden sind, sondern in ihrem Herzen wohnen. Im Wissen, dass ihre Vergangenheit sie zu der gemacht hat, die sie heute ist und morgen sein wird. Im Glauben, dass sie „von guten Mächten wunderbar geborgen“ ist und in Erinnerung an ihre Kindheit, in der sie vor allem eins werden wollte: frei.
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