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Die im Dunkeln sieht man nicht



„Geschafft! Muttertag überstanden...“ Eva versucht, fröhlich zu klingen. Aber mir kann sie nichts vormachen. Ich weiß, wie sehr ihr der Muttertag zusetzt. Eva ist Mutter. Mit dem kleinen Zusatz „Stief“. Sie ist eine sehr liebevolle Stiefmutter. Mit den Bildern, die uns die Gebrüder Grimm eingeimpft haben – von der grausamen Stiefmutter, die ihren Mann mit sanft-wispernden Ton überredet, Hänsel und Gretel im Wald auszusetzen, oder der neidischen, die ihren Spiegel ängstlich befragt, ob sie schöner sei als das elfenhafte Schneewittchen – hat Eva nichts gemein.


Eva liebt ihre beiden Stiefkinder. Und sie sorgt für sie. Sie richtet Jausenboxen, kontrolliert Hausaufgaben, liest Gute-Nacht-Geschichten vor und schlägt sich die Nächte um die Ohren, wenn Pollenallergie, Fieber oder Albträume den Kleinen den Schlaf rauben. Seit die Kinder drei und fünf Jahre alt sind ist Eva ihre „Teilzeitmutter“, und das, obwohl sie keine Zeit hatte, in ihre Rolle hineinzuwachsen. Neben Partner und Kindern musste Eva ganz nebenbei auch noch die Ex-Frau und deren Erziehungseinfluss in ihr Leben integrieren. Und obendrein die nicht unkomplizierte Patchwork-Terminkoordination unter einen Hut bringen.


So wie Eva geht es den meisten Stiefmüttern. Sie müssen eine Fülle an Aufgaben, Ansprüchen und Emotionen mit hoher sozialer Kompetenz balancieren. Der Muttertag ist für sie dann oft ein ziemlicher Schlag ins Gesicht. Denn während die leiblichen Mütter Blumen und Selbstgemaltes bekommen und damit Dank und Anerkennung für ihr Dasein, für ihre Liebe und Aufopferung, gehen die Stiefmütter meist leer aus. „Ist ja auch ok. Ich bin ja nicht die Mutter“, sagt Eva tapfer. „Die im Dunkeln sieht man eben nicht.“


Im Dunkeln – ja ich finde, dort stehen Stiefmütter heutzutage noch viel zu oft. Ihr Märchenimage, wo sie als böse Macht von außen in die Kernfamilie eindringen und den Kindern das Leben zur Hölle machen, werden sie nur schwer los. In einer Zeit, in der fast jede zehnte Familie mit Kind schon eine Patchworkfamilie ist und Stiefmütter für das soziale Zusammenleben unerlässlich sind, ist es aber höchste Zeit, dieses Image aufzupolieren. Und den Stiefmüttern die Beachtung und Dankbarkeit entgegenzubringen, die sie verdienen.


Jesus selbst hat uns immer wieder vorgelebt, dass wir vor allem auf jene achtgeben sollen, die in der Gesellschaft nicht gesehen werden. Auf jene, die keine große Lobby haben. In den USA passiert das bereits. Dort gibt es schon seit längerem den sogenannten Stiefmutter-Tag. Einen Tag, an dem Danke gesagt werden kann, für all das, was Stiefmütter täglich leisten. Ein Tag, an dem positiv auf Stiefmütter geschaut wird. Dieser Tag findet eine Woche nach dem Muttertag statt. Heute.

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